Die Zeichen der Zeit

Vorbemerkung von WLu: Der Text ist nicht mehr brandneu. Er erschien bereits 1989 im Wendekreis. Und sein Verfasser, mein „alter“ Freund Franz Dähler, ist inzwischen gestorben. Seine Überlegungen zum Missionsverständnis sind aber nach wie vor sehr aktuell.

Vor einigen Tagen erhielten wir einen erzürnten Brief. Ein Reallehrer warf uns vor, wir verfälschten die Mission, betrieben sie nur noch als Entwicklungshilfe, als sozialpolitische Aktion, nicht mehr als Verkündigung Christi, nicht mehr «auf Gott, Erlösung und Seelenheil bezogen». Aus einer anderen Ecke erfahren wir Widerspruch von jenen, die der Mission jede Berechtigung absprechen, da sie die Kultur anderer Völker verletze und Menschen, die eigentlich besser seien als wir Christen, bekehren und taufen wolle.

Was bedeutet nun Mission wirklich? Gilt das Wort Christi nicht mehr, dass wir das Evangelium allen Völkern verkünden sollen? Oder gilt es erst recht und sind jene im Unrecht, die vom Dialog mit anderen Religionen reden, als ob sich Moslems, Hindus, Buddhisten und Animisten nicht mehr bekehren müssten?

Das Generalkapitel der Immenseer Missionare setzte sich intensiv mit diesen Fragen auseinander. Um darauf zu antworten, genügt es nicht, nur die Bibel zu lesen, sondern wir müssen die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit von heute ins Auge fassen. Denn Christus kam und kommt zu den Menschen, um auf ihre wahren Nöte einzugehen. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern spricht Jesus von den «Zeichen der Zeit», die sie nicht verstünden (Lk 12,54-57). Er meinte damit bestimmte geschichtliche Ereignisse, in denen Gottes Wirken spürbar wird. Der Generalkapitel suchte sie für unsere Zeit zu deuten: die Zeichen der Gegenwart sind die Suche nach Frieden und Gerechtigkeit, die Sorge um die Natur, der Durst nach einer Kirche mit weltweiten Dimensionen, die Bereitschaft zum Dialog unter den Religionen, der Ruf nach dem lebendigen Gott. Zum Ruf nach dem lebendigen Gott: Ist nicht sogar der Atheismus, die Leugnung Gottes ein Schrei nach dem lebendigen Gott? Gewiss nicht dann, wenn er nur auf Gleichgültigkeit und materialistischer Lebenshaltung beruht. Wohl aber dann, wenn ein Atheist oder ein Zweifelnder einen «Gott» ablehnt, der richtet und straft, auf der Seite der Mächtigen steht. Der Atheismus kann ein Schrei sein nach dem ganz anderen Gott, ein Protest gegen die Gewalt, ein verzweifelter Ruf nach einem gerechten Gott, der zu den Schwachen und Unterdrückten steht.

Wie müsste nun Mission als Antwort auf die Zeichen der Zeit, auf die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit, aussehen? Wäre es nicht besser zu schweigen angesichts der Irrtümer, ja Verbrechen, die grosse Teile der Christenheit gegenüber anderen Völkern durch Eroberung und Unterjochung begingen und auch heute noch durch Atomrüstung, wirtschaftliche Ausbeutung und ungehemmte Technisierung begehen? Aber ist denn das, was Christen anderen Völkern und der Natur antaten, die Botschaft des Mannes aus Nazareth? Ist sie nicht die Umkehr , das Gegenteil dessen, was wir Christen taten und noch tun? Der ehemalige Zollbeamte Matthäus sagte von ihm, dass er gekommen sei, «um den Völkern das Recht zu verkünden, er werde nicht schreien wie die Grossen, die Schwachen nicht wie ein Schilfrohr knicken, und die Völker würden auf ihn ihre Hoffnung setzen» (Mt 12,18-21). Und von sich selbst sagte Jesus, dass er den Armen eine frohe Nachricht bringe und die Zerschlagenen in Freiheit setze. Mit dem Hintergrund der heutigen Weltsituation ist das doch unerhört aktuell. Es wäre ein Widersinn, davon zu schweigen, eine solche Botschaft abzuschwächen oder nur auf das Jenseits umzudeuten.

Dass es ein Widersinn wäre, eine grosse Hoffnung für die Völker zu verschweigen, erfuhr ich aus vielen Begegnungen mit jungen Asiaten und Afrikanern. Wenn ich sie fragte, warum sie Christen wurden, erhielt ich oft folgende Antworten: «weil ich dadurch Gemeinschaft erfahre – ich habe jetzt keine Angst mehr vor Gott – die Persönlichkeit von Christus zieht mich an – der Tod und die Auferstehung von Christus beeindrucken mich tief – wir sind untereinander Brüder und Schwestern». Ich staunte, wie rasch diese Menschen den Kern der christlichen Botschaft entdeckt hatten und welche Freude das in ihnen auslöste. Es überraschte mich auch, wie junge Indonesier, deren Eltern noch Moslems waren, Texte der Bibel nicht selten besser verstehen und erklären konnten als ausgebildete Theologen! Das Herz sprach zum Herzen, ohne lange Umwege.

Ich glaube, dass das Generalkapitel der Immenseer Missionare diese Stimmen vertritt, wenn es den missionarischen Auftrag umschreibt als den «Einsatz für das Leben in Fülle». So verstand es auch der indonesische Studentenführer Chris Siner, als er bei einer Diskussion erklärte: «Der Glaube bedeutet für mich, das Leben lieben.» Bei afrikanischen Gottesdiensten äussert sich diese Freude am Leben, am lebenspendenden Gott, in Trillern, Jauchzern und Tänzen. Dazu Walbert Bühlmann: «Diese singenden und tanzenden Menschen, die den Hüttenhof zum Heim, die Arbeit zum Rhythmus, den Gottesdienst zum Fest machen, sie haben der Menschheit und der Kirche etwas zu schenken.»

Aus dieser Sicht erhalten auch die Sakramente, vor allem Taufe und Eucharistie, einen neuen, tiefen Sinn. Sie sind Symbole, Sammelpunkt des Lebens. Die Taufe spricht den Glauben an Gott, an das Leben in Fülle, aus (Wasser ist das Symbol des Lebens), die Eucharistie tiefe Freundschaft mit Gott und unter den Menschen (das Mahl ist Symbol der Gemeinschaft). Unvergesslich sind die Eucharistiefeiern, die ich unter jungen Menschen in Bangalore, Kuala Lumpur, Jakarta, Lima, Valladolid und Masvingo erleben durfte, in die der Reichtum und die Musikalität der indischen, peruanischen, afrikanischen Kulturen hineinströmte. Sie waren zugleich völkerverbindend über alle Nationen hinaus. Da war Taufe nicht mehr Zeichen der Ausschliesslichkeit (ohne Taufe kein Heil) und die Eucharistie weit mehr als eine sonntägliche Verpflichtung.

Franz Dähler

Fortsetzung folgt