Miteinander, statt nebeneinander im Tram

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, sagt man. Das Tram ist pünktlich. Aber kein Platz mehr frei, eine Selbstverständlichkeit um diese Zeit. Dazu absolute Stille, Schweigen überall. Nichts zu hören, was die Anwesenheit von Menschen verraten würde, nur das Rumpeln des in die Jahre gekommenen Fahrzeugs. Alle Passagiere halten den Kopf gesenkt, fast andächtig. Nacken an Nacken, nebeneinander, hintereinander.

Ich werde an die Aussicht erinnert, die man wahrnimmt, wenn man sich beim Abdankungsgottesdienst in der fast vollen Kirche zuhinterst zwischen Eingangsportal und Weihwasserbecken anstellt, weil die Hemmschwelle zu den vordersten Bänken, wo immer Plätze frei bleiben, zu gross ist. Ich wähne mich also tatsächlich in einem Andachtsraum: alle «Gläubigen» nach vorne ausgerichtet, nebeneinander, hintereinander, andächtig das Haupt gesenkt. Anstelle des ewigen Lichts zittert allerdings eine nervöse Leuchtschrift: Tellplatz, Museumsstrasse … Anstelle von farbigen Kirchenfenstern Werbung: Ihren Zähnen zuliebe … Horror Rocky Show im Musical Theater … In diesem Raum der Stille aber gilt die Aufmerksamkeit ausschliesslich kleinen und grösseren Kästchen und flachen Bildschirmen mit viel Farbe, Text und Tabellen.

Plötzlich aber kommt «Stimmung» auf. Jemand erhebt laut eine markige Stimme. Ein Vorbeter etwa? Niemand reagiert, denn niemand hier wird angesprochen. Dieser Jemand spricht ins Leere (was wie eine Sprech- und Hörstörung wirkt), während er aufsteht und sich einen Weg zur Stange mit dem Halteknopf erzwingt. Aha, gestylt, Marke angehender Finanzfachmann. Unter dem linken Arm eine Mappe festgeklemmt, tastet er mit der rechten Hand nach dem Halt auf Verlangen. In den Ohren kleine weisse Stöpsel, von denen aus verknotete Drähte irgendwohin führen. Der beschwerliche Weg zum Ausgang erlaubt ihm aber immerhin noch die höchst brisante Konversation:

«Tag Schatzi, wohl geruht?» – Pause!
«Neeein? Echt? Voll krass!» – Pause!
Dann lauter (Es interessiert schliesslich uns alle, was der junge Mann nun vorhat):
«Du, ich muss gleich aussteigen!» – kurze Pause!
«Du auch? Super! Ja, dann bis gleich! Tschüssli – Tschautschau!»

Das Tram hält. Man sieht die beiden Arm in Arm in der Menge entschwinden. Dann wieder Stille. Es wird weiterhin auf Handys, iPhones, Tablets, Computern gelesen, getippt, herumgekurvt. Eilige Daumen huschen blitzschnell über die Tastatur. Phänomenal diese Fertigkeit! (Da steckt unsereins das iPhone beschämt wieder ein.) SMS kommen, SMS gehen. Gesichter trüben ein (schlechte Nachrichten) oder hellen sich auf (gute Nachrichten). Aber noch immer finden in diesem Wagen keine Blickkontakte von irgendjemandem mit irgendjemandem statt.

Wieder hält das Tram. Handys, Computer, Tablets steigen aus, neue steigen ein. Kein Blick wird auf irgendeine Person verschwendet. Und wenn doch, dann bloss, um Zusammenstösse zu vermeiden. Die Menschen blicken sich zwar an, in Wirklichkeit aber durch sie hindurch. Man will nur wissen, wie viele noch aussteigen und dann das Trittbrett sicher treffen.

Endlich eingestiegen, setzen sich junge Leute mit traumwandlerischer Sicherheit, ohne ein einziges Mal aufzublicken, auf frei gewordene Sitze und Bänke, hier die Taschen selbstverständlich neben sich. Eine ältere Dame wagt mit sichtbarem Schuldgefühl ein zaghaftes: «Ist hier noch frei?» und deutet auf die Tasche, denn sie nimmt berechtigterweise an, die junge Frau sei taub.

«Hm»
«Danke!»
Ein «Bitte» wäre jetzt eine Überforderung gewesen.

Keine echte Konversation zwar, aber immerhin so etwas wie ein Anfang. Bis zur nächsten und dann übernächsten Haltestelle kann sich ja noch einiges entwickeln!

Wo kämen wir hin, wenn diese kleine Morgengeschichte nicht frei erfunden wäre?

Es ist jeden Tag einmal sieben Uhr morgens. So lange es Trams gibt und die Leute täglich zur Arbeit fahren, steigen immer Leute ein und aus und niemand nimmt wahr, dass es eigentlich immer dieselben sind, dass man oft neben derselben Person sitzt wie gestern und vorgestern und nicht merken würde, wenn diese einmal ausbliebe. Niemand hat ein Lächeln zu verschenken und schon gar nicht ein Wort oder eine freundliche Geste. Alles nur stumme, namenlose Wesen, Gespenster, ein Geistertram!

Niemand wagt die (ehrliche!) Frage: Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie etwas Besonderes vor? Etwas Erfreuliches, das man gerne jemandem erzählen möchte? Etwas Betrübliches, das man lieber für sich behält?

Na ja, Morgenmuffel halt! Achtet man zu dieser frühen Stunde auf die Emsigkeit der Fingerspiele, ist selbst das keine Ausrede mehr!

So weit könnte es kommen, wenn flinke Daumen wichtiger werden als Augen, Ohren, Mund und Herz.

Felix Neuner