Das «Idiotikon» – die Arbeiten wurden von Anfang an unterschätzt

Spartanisch, die Einrichtung von Prof. Hans Bickel in seinem Büro: Ein Tisch, ein PC und – das wichtigste – der Zettelkasten. © Beat Baumgartner

Hans Bickel, Sie sind seit längerem auch Redaktor des Schweizerischen Idiotikon, dem «Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache». Das Redaktionsteam ist momentan bei Band 17 und den Wörtern mit Anfangsbuchstaben Z angelangt. Das Wörterbuch ist eher schwierig zu lesen.

Das stimmt. Beim Idiotikon handelt es sich um ein wissenschaftliches, nicht selbsterklärendes Grundlagenwerk, das nach einem klaren System aufgebaut ist, aber halt sehr viele Abkürzungen hat. Einerseits basiert das Idiotikon auf einem Grundwortsystem, von dem zahlreiche Wörter abgeleitet sind. Z.B. von «Stich» die Wörter Fliegenstich, Häxenstich, Sunnenstich, stichle etc. Zweitens spielen beim alphabetischen Aufbau des Idiotikons vor allem Konsonanten eine Rolle, Vokale wie a, e, i, o, u und deren Umlaute sind zweitrangig.

Seit 2010 ist das Idiotikon digitalisiert, hat dies zur Weiterentwicklung des Forschungsgegenstandes beigetragen?

Auf jeden Fall: Die Publikation ist einfacher zugänglich und wird von sehr viel mehr Leuten als früher benützt. Dadurch erhalten wir auch mehr Feedbacks. Wörter lassen sich einfacher finden, vor allem auch dank der Volltextsuche. Bei längeren Artikeln gibt es zusammenfassende Übersichten über die Bedeutung eines Wortes.

Die Räume und Gestelle des „Idiotikon“ im historischen Gebäude an der Auf der Mauer 5 in Zürich atmen den Geist des 19. Jahrhunderts, mit den altehrwürdigen Folianten und gebundenen Büchern in Leder. © Beat Baumgartner

 

1881 rechneten die Idiotikon-Autoren mit einem Abschluss binnen 20 Jahren. Doch noch immer wird daran gearbeitet. Können Sie heute eine Prognose stellen?

Es dauert vielleicht noch zehn Jahre bis zur Fertigstellung. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die Arbeiten von Beginn weg unterschätzt wurden. Als ältestes historisches Wörterbuch der Schweiz ist das Idiotikon aber das am weitesten fortgeschrittene. Beim «Dicziunari Rumantsch Grischun» (ab 1939) ist man bei der Wortgruppe «Medi» angelangt, beim «Glossaire des patois de la Suisse romande» (ab 1924) bei «gros-guère». Und das «Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana» (ab 1952) beschäftigt sich mit der Wortgruppe «dénc–Denedaa».

Das Idiotikon arbeitet mit Material vom späten Mittelalter bis zur Jetztzeit. Die meisten Dokumente für die Mundart stammen allerdings aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Wie integrieren Sie denn die aktuelle Weiterentwicklung unserer Mundarten in das Werk?

Es ist klar, dass das Idiotikon sich auf die Mundarten der Vergangenheit konzentriert hat. In den letzten Jahrzehnten hat sich tatsächlich wieder viel Nachtragsmaterial angesammelt; Mundarttexte, Mundart-Wörterbücher usw. Allerdings ist schwer absehbar, welche Wörter nur vorübergehende Modeausdrücke sind oder länger Bestand haben. Unsere Idee ist, nach Abschluss der Idiotikon-Gesamtarbeiten nicht einfach wieder von vorne zu beginnen, also mit dem Buchstaben A, sondern dort, wo die grössten Lücken sind, das Online-Wörterbuch zu ergänzen.

Ein Zettel des Davoser Korrespondenten Valentin Bühler vom Ende des 19. Jahrhunderts zur Bedeutung des Adjektivs „wyss“.

Integrieren Sie auch Tondokumente?

Nein, dafür ist das Phonogrammarchiv der Universität Zürich zuständig, es sammelt Tonaufnahmen in allen Schweizer Dialekten aller vier Landessprachen.

Ich habe den Eindruck, dass in der Schweiz sich die Dialektforschung an den Universitäten am Zunehmen ist. Warum dieses grosse Interesse.

Das kann ich so nicht bestätigen. Die Dialektforschung hat heute an Schweizer Universitäten eine kleinere Bedeutung als etwa vor 50 Jahren. Erst langsam nimmt jetzt das Interesse an diesem Forschungsgegenstand wieder zu. Was hingegen stimmt: Die Schweizer Dialekte sind bereits gut erforscht. Es gibt dazu viele gute Grundlagenwerke, aber sie wurden schon vor längerer Zeit erarbeitet.


Das «Idiotikon» – eine Schweizer Institution

Das Schweizerische Idiotikon mit Sitz in Zürich ist ein Institut zur Erforschung und Dokumentation der deutschen Sprache und ihrer Dialekte in der Schweiz. Seine Hauptaufgabe ist die Erarbeitung des «Wörterbuchs der schweizerdeutschen Sprache». Dieses Werk beschreibt den

Albert Bachmann aus Hüttwilen, der spätere Chefredaktor des „Idiotikon“ erklärt das Wort „Die ôrnig“, ein Zettel von 1882.

alemannischen Wortschatz in der Schweiz vom Spätmittelalter bis ins 21. Jahrhundert. Getragen wird die Publikation von den Deutschschweizer Kantonen und der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. 17 Redaktoren, Wissenschaftler, Informatiker und studentische Fachkräfte arbeiten an der Publikation

Die Geschichte des «Idiotikons» beginnt 1862, als man einen Trägerverein gründete und ein ausgedehntes Korrespondentennetz schuf. Friedrich Staub und Ludwig Tobler publizierten 1881 das erste Heft des Wörterbuchs, «gesammelt auf Veranstaltung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich, unter Beihülfe aus allen Kreisen des Schweizervolkes». Ursprünglich sollte das auf vier Bände angelegte Grundlagenwerk in zwanzig Jahren abgeschlossen sein. Doch mittlerweile sind 137 Jahre vergangen, und die Autoren sind beim letzten Band 17 und dem Buchstaben Z angelangt. Bis Mitte 2020 will man das umfangreiche Werk, das dereinst um die 165’000 Stichwörter umfassen wird, fertig

Oft wurden den schriftlichen Erklärungen auf den Zetteln kleine Zeichnungen ergänzt, um die Worter (im Bild die Einzelteile eines Pfluges) wie sie im bündnerischen Obersaxen gebräuchlich waren, genau zu benennen.

haben. Seit 2010 kann man alle Einträge per Stichwort- oder Volltextsuche auch online abrufen.

Der Begriff Idiotikon stammt aus dem 18. Jahrhundert und meint ein Wörterbuch, das mundartliche, dialektale Ausdrücke erläutert. Idiotikon ist eine auf das griechische Wort ídios «eigen, eigentümlich, privat» zurückgehende Wortschöpfung und bedeutet ein «Verzeichnis der einer bestimmten Mundart eigenen Besonderheiten». In der Medizin und Psychologie war «Idiotie» als Diagnose bestimmter Formen geistiger Behinderung bis ins frühe 20. Jahrhundert gebräuchlich, ist als medizinischer Fachbegriff aber heute vollständig verschwunden.

Das Schweizer «Idiotikon» berücksichtigt alle alemannischen Sprachregionen der Deutschschweiz, eingeschlossen die Walserorte in Norditalien. Ein Spezialfall ist Samnaun im Bündnerland: Es ist die einzige Schweizer Gemeinde, die zum bayrischen Sprachraum gehört. Die Samnauner sprechen den Oberinntaler Dialekt, eine tirolische Mundart. Der Wortschatz dieses Dialekts wird im Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich erfasst.

www.idiotikon.ch

 

Warum hat wohl das Aderio so geheissen, fragte sich der Korrespondent Johann Konrad Däniker Mitte des 19. Jahrhunderts und zeichnete gleich noch das Objekt der Untersuchung? „So geheissen, weil der heilige St. Adrian für sein Leben gern Spissli ass“. Ob das was mit dem heutigen Adrio zu tun hat?