Franziskus: Sohn – Freund – Bruder

Er nimmt jeden Lebensabschnitt so an, wie er ihm «zufällt»: Franz von Assisi, dessen Leben immer wieder andere, vielfältige Formen annimmt. Auch nach vielen Jahrhunderten fasziniert uns seine Lebensgeschichte.

Menschen leben ihr Leben in Etappen. Jeder Lebensabschnitt hat eigene Formen der Zugehörigkeit. Franz von Assisi erfährt zunächst familiäre Geborgenheit, wird als junger Kaufmann in Assisis führende Zunft aufgenommen, erlebt als Kriegsgefangener Schicksalsgefährten in Perugias Kerker und gründet nach einer Zeit einsamer Sinnsuche mit Gefährten eine fraternitas – eine geschwisterliche Bewegung. Sie entwickelt die Vision einer Geschwisterlichkeit, die niemanden ausschliesst.

Familiäre Geborgenheit
Franziskus‘ Kindheit verläuft sonnig. Er wächst in reichem Haus aus, erhält Schulbildung und wird von seinen Eltern liebevoll gefördert. Als Jugendlicher arbeitet er sich in den Beruf eines Modeexperten ein. Unterwegs durch die Provence verliebt er sich in die französische Kultur.

Die Horizonte weiten sich, doch bleibt seine Verwurzelung in Assisi: Leben und Arbeit mit seiner Familie, Lebensfreude und Feste mit ausgewählten Freunden, kühne Karriereträume in der Kleinstadt, die sich damals eben vom deutschen Fremdherrscher befreit.

Quälende Einsamkeit
Äussere und innere Beheimatung kann unerwartet verloren gehen. Franziskus stolpert über seinen Ehrgeiz, zieht in einen Krieg gegen die Nachbarstadt, erlebt ein Desaster und landet in Kriegsgefangenschaft. Der einjährigen Kerkerhaft folgt eine Krankheit, aus der er sich erst nach Monaten aufrappelt.

Danach erscheint ihm sein geliebtes Städtchen erschreckend farblos und sein Kaufmannsleben ohne Sinn. Franziskus sucht neue Lebensfreude. Er findet sie ausserhalb seiner Stadt und Zunft, fern von Familie und Freundeskreis: in der bergenden Stille einer verlassenen Krypta und unter Aussätzigen. Dunkle Erfahrungen aus Krieg, Kerker und Krankheit finden Licht in Distanz zu einer Stadt, mit der Franziskus nach Gotteserfahrungen in der armen Landkirche San Damiano bricht.

Christusfreundschaft
Dem Bruch mit Stadt, Zunft und Familie folgen zwei Jahre als Einsiedler bei San Damiano. Die neue Biografie von Volker Leppin sieht Franziskus in dieser Phase vorschnell als orientierungslosen Aussteiger. Obwohl er hier mit Randständigen am zerfallenden Kirchlein baut, findet er in eine neue Geborgenheit und eine Freundschaft, die zur tragenden Beziehung seines Lebens wird.

War Franziskus bis anhin religiös uninteressiert, öffnet ihm hier eine Ikone die Augen für eine überraschende Gottesnähe. Nicht der Weltenherrscher, den die Kirchen in der Stadt darstellen und die adeligen Prediger verkündigen, sondern ein Gottessohn mit offenen Augen, offenem Ohr und weit offenen Armen erwartet ihn hier auf einer Ikone in der ärmlichen Kapelle; ein Christus, der schaut, hört und umarmt. In seinen Fussspuren findet Franziskus seinen neuen Lebenssinn und Auftrag.

Friede ohne Mauern
Das Leben vor den Stadtmauern zeigt Franziskus drastisch, wie exklusiv seine Stadt tickt. Die Freiheit, die sie sich erkämpfte, gilt nur für Bürger innerhalb der Mauern, nicht für die Bauernfamilien auf dem Land. Sie bleiben den adeligen Grundherren und den Klöstern ausgeliefert. Die städtische Wirtschaft setzt auf Produktion und Gewinn.

Wer behindert, wenig belastbar oder nicht mehr leistungsfähig ist, droht zu verarmen und aus der Stadt verstossen zu werden. Das schlimmste Schicksal trifft Aussätzige. Panische Angst vor Ansteckung führt dazu, dass Adelige wie Bürger, Arbeiterinnen oder Familienmütter von einem Tag auf den andern aus der Stadt getrieben werden und sich ihr nie wieder nähern dürfen.

Franziskus erfährt im Evangelium, dass Jesus seine Freunde und Jünger aussandte, um Friede in die Häuser und Städte zu bringen. Der Einsiedler wird zum Friedensboten: Er arbeitet mit Bauern und Bürgern, baut Brücken zwischen Privilegierten und Ausgeschlossenen und spricht von einem Gott, dessen Liebe keine Mauern und Klassen kennt.

Geschwister ohne Grenzen
Die Christusfreundschaft und Menschenliebe, die Franziskus im eigenen Tun lebt, fasziniert. Bald schliessen sich ihm Gefährten an. Sie verbinden, was die damalige Gesellschaft und Kirche in Stände trennte. Bernardo ist ein Vornehmer, Pietro ein Gelehrter, Egidio ein Handwerker. Zu den Städtern kommen Bauernsöhne, zu den Laien erste Priester. Der Biograf schreibt später über das soziale Wunder, das sich in dieser entstehenden fraternitas ereignet: «Die Brüder empfanden einzigartige Freude, wenn jemand, vom Geist Gottes geführt, kam, um das Kleid ihrer Gemeinschaft zu nehmen. Es war ganz gleich, wer oder was er war, ob arm oder reich, ob hochgestellt oder niedrig, ob unbedeutend oder angesehen, ob klug oder einfältig, ob Geistlicher, Ungebildeter oder Laie im christlichen Volk. Auch die Weltleute bewunderten all das und sahen darin ein Beispiel, das auch sie zu einem neuen Lebenswandel aufrief.»

Als sich den frühen Brüdern drei Jahre später mit Klara eine Schwester anschliesst, beginnt ihre Gemeinschaft ihre Christusnachfolge sesshaft zu leben: wie Marta und Maria in Betanien mit einem offenen Haus. Die Schwestern haben offene Türen und Hände für Menschen aus nah und fern. In «Briefen an alle Gläubigen» macht Franziskus deutlich, dass Nachfolge Jesu auch mit Familie und in den angestammten Berufen zu leben ist: als Söhne und Töchter Gottes, inspiriert von seinem Geist und als Freunde, Geschwister, Geliebte und Mütter Christi.

Jede Art Exklusion überwinden
Die erste ausführliche Bildbiografie, die das Leben des Heiligen um 1250 auf einer grossen Altartafel (so genannte Barditafel) beschreibt, drückt die sich weitenden Horizonte und immer reicheren Formen der Zugehörigkeit auf sinnenfällige Art aus. Die Lebensskizze beginnt links oben. Die erste Szene zeigt Franziskus mit seinen Eltern – in der familiären Welt, die ihn einengt und die er hinter sich lässt. Die zweite Szene zeigt den Prozess vor Bischof Guido: Franziskus in seiner Ortskirche. In der dritten Szene wird Franziskus Einsiedler und in der vierten erkennt er seine Berufung: ein neuer Jünger Jesu und Bruder der Menschen zu sein.

Die fünfte Szene zeigt ihn mit den ersten Brüdern vor Papst Innozenz III.: Die junge Bruderschaft sieht sich in die ganze Weltkirche gesandt. Sie bringt Menschen die Zuwendung Gottes kreativ nahe, an Weihnachten etwa, indem in Greccio das erste Krippenspiel der Geschichte aufgeführt wird. Die siebte Szene zeigt Franziskus als Bruder der Geschöpfe, der mit Vögeln spricht und singt. Die letzte Szene dieser linken Bilderfolge führt nach Ägypten.

Kein «Heiliger Krieg»
Wenn Gottes neue Welt «bis an die Grenzen der Erde» erfahrbar werden und allen Geschöpfen verkündet werden soll, wie es die Evangelien vom Auferstandenen berichten, kann Franziskus der Doktrin seiner Kirche nicht folgen, die zum «Heiligen Krieg» gegen den Islam aufruft. Gott ist Schöpfer und Vater aller Menschen – und Muslime können daher weder als Unmenschen noch als Teufelssöhne verunglimpft werden.

Die Friedensmission, mit der Franziskus in den fünften Kreuzzug eingreift, wartet mit einer weiteren Überraschung auf. Zusammen mit einem Gefährten ins Lager von Sultan Muhammad al-Kāmil aufgebrochen, entdeckt Franziskus Gottesfreunde in der anderen Religion. Er lernt von der spirituellen Weisheit des Islam und lädt, zurück in Italien, «alle Menschen auf Erden» ein, es ebenfalls zu tun. Als Bürger einer Kleinstadt geboren und in ihr geborgen, vollendet Franziskus sein Leben als Bruder aller Menschen; weil weder Gottesfreundschaft noch wahre Menschlichkeit Grenzen kennen.

Einheit von Himmel und Erde
Die rechte Bildfolge der Barditafel zeigt von unten aufsteigend, in welche Einheit Franziskus am Ende des Lebens findet – und welche er aufscheinen lässt. Am Kapitel der Brüder in Arles wird deutlich, dass die Bruderschaft alle nationalen Grenzen überwindet. Die zweite Szene zeigt Franz auch in alten Tagen als Freund der Aussätzigen – soziale Brücken bauend. Die dritte Szene stellt den Verstorbenen in den Himmel einziehend dar.

In den folgenden Bildern steht Franziskus als Freund im Himmel Menschen in vielfältigen Nöten bei. Irdische Pilgerwege führen in eine himmlische Gemeinschaft, aus der niemand herausfällt.

Niklaus Kuster