Werden nicht alle Kinder angenommen?

Bevor Erwachsene Kinder annehmen, müssen sie sich selber annehmen. Nur wer sich selbst mag, kann andere mögen.

Meine Lieblingstante hatte etwas Spezielles an sich. Es waren nicht ihre Leibesfülle, nicht ihr fröhliches Lachen und auch nicht ihre Grosszügigkeit im Geschenke verteilen. Was war es denn?

Helferwillen
Ich hatte soeben die Erstkommunion hinter mir, als ich zufällig erfuhr, dass die Tante nicht meine richtige Tante sei. Sie sei zwar mit meinem Vater aufgewachsen, als wäre sie seine Schwester. In Wirklichkeit, so sagte man mir, hätte man das Kind «angenommen». Ich kam ins Sinnieren: Angenommen? Nahm man denn nicht jedes Kind an?

Das «Kind-Annehmen» geschah bei meiner Grossmutter aus einem Helferwillen heraus: Wie dies früher öfters passierte, starb die Mutter meiner Tante bei der Geburt ihres Kindes. Wer sollte für das Baby aufkommen, wenn nicht seine Taufpatin? Und so geschah es, dass der Säugling, der zwei Tage nach der Geburt getauft und mit dem Segen des Dorfpfarrers von meiner Grossmutter, die als Gotte amtete, gleich mit nach Hause genommen wurde. In aller Selbstverständlichkeit. Ohne Wenn und Aber.

Ein weiteres Kind
Meine Grossmutter liebte Kinder. Was machte es aus, wenn in der Stube des kleinen Bergheimetlis noch ein zusätzlicher kleiner Knirps herumkrabbelte? Wenn ein weiteres Kind durchgefüttert und eingekleidet, ins entfernte Dorf in den Religionsunterricht und bei Wind und Wetter über Hügel und Schluchten in die kleine Aussenschule geschickt werden musste?

Das «Angenommensein» hatte positive Auswirkungen. Oder waren die Fröhlichkeit und Grosszügigkeit meiner Tante nicht (auch) darauf zurückzuführen, dass das Kind bei meinen Grosseltern in guter und herzlicher Obhut aufgewachsen war? Dass seine Geschwister das Mädchen achteten und liebten, als wäre es ihre «richtige» Schwester?

In der Zwischenzeit kenne ich viele Familien, die ein Kind «angenommen» haben. Meine Familie gehört dazu. Obwohl zwischen meiner Tante und unserem (Adoptiv-)Sohn zwei Generationen liegen, hörte auch ich gelegentlich den Satz: Schön, dass ihr ein Kind annehmt!

«Warum gehört keines mir?»
Bevor ich aber ein Kind annehmen konnte, musste ich mich selber annehmen. Ich musste meiner unfreiwilligen Kinderlosigkeit in die Augen schauen und den Gedanken zulassen, dass die natürlichste Sache der Welt (aus medizinischen Gründen) nicht unserer Natur entsprach.

Ich erinnerte mich an jenen Tag, als mein Herzschlag bei einem Spitalbesuch ins Stocken geriet. Beim Passieren der Säuglingsabteilung konnte ich meine Blicke kaum abwenden von den vielen Kinderbettchen, in denen die Babys schliefen. Ich starrte sie regelrecht an, die rötlichen und gelblichen Köpfe der Säuglinge, ihre dunklen Haare, die winzigen Fäustchen. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu schreien: Warum gehört keines dieser Babys mir?

Die Natur hat anderes mit uns vor, trösteten mein Mann und ich uns gegenseitig. Es war ein Trost, dem der Glaube fehlte. Denn ich betrachtete vorerst meine Kinderlosigkeit als eine Art Mangelkrankheit. Zudem verwirrte mich die Hypothese der Ethnologin Margaret Mead, die behauptete: «Das Wichtigste im Leben einer Frau ist jene Tätigkeit, die sie am meisten ausfüllt.»

Neue Perspektiven
Später, als die Wut vorüber und die Trauerarbeit zu einem guten Teil geleistet war, entpuppte sich die unfreiwillige Kinderlosigkeit als wertvolle, eigenständige Erfahrung. Zudem wurden wir frei für neue Lebensperspektiven. Langsam, still und leise wuchs in unseren Herzen und Köpfen der Wunsch, Eltern zu werden für ein Kind, dessen Körper und seelische Anlagen nicht den unsern ähneln mussten.

Wir nahmen unsere Körper an, wie sie waren. Und wir nahmen uns an, wie wir eben waren. Die anfänglich als negativ empfundene, unfreiwillige Kinderlosigkeit hatte ihren Schrecken verloren. Sie wurde durch eine positive Einstellung ersetzt. Schliesslich erfüllten sich Adoptiveltern durch ihre Elternschaft nicht nur ihren eigenen Kinderwunsch, sondern auch einen gesellschaftlichen Auftrag.

Nicht irgendwo in der grossen, weiten Welt, sondern in unserer Nähe gab es dann tatsächlich einen Menschen, der für uns bestimmt war. Dieses Baby empfingen wir mit herzlicher Offenheit. Das gegenseitige «Angenommensein» dauert bis zum heutigen Tag.

Das etwas andere Wunschkind
Sibylla S. (Name der Redaktion bekannt) zeigt mir bei meinem Besuch als erstes das Bild in einer Zeitung aus den 1980er-Jahren: 600 Buben und Mädchen aus verschiedenen europäischen Ländern, aus den USA, aus Indien und Island stehen vor einem englischen Krankenhaus und schauen farbigen Ballonen nach. Die Ballone sind mit dem Namen der Kinder beschriftet und fliegen in den blauen Himmel. Alle Kinder sind fröhlich und ausgelassen. «Eines dieser Kinder ist Louise Brown», heisst es in der Bildlegende, «es wurde weltweit als erstes Kind im Reagenzglas gezeugt.»

«Nach 1978 sind Millionen von Kindern auf der ganzen Welt durch In-vitro-Fertilisation entstanden, ich gehöre auch zu ihnen», sagt, mit etwas Stolz in der Stimme, die fünfundzwanzigjährige Sibylla S. Doch dann ergänzt sie ihre Aussage eher nachdenklich: «Der früher oft verwendete Begriff ‹Retortenbaby› ist nicht gerade ein freundlich klingendes Schlagwort für Kinder, die durch Befruchtung ausserhalb des menschlichen Körpers gezeugt wurden. Darum ist heute meist von ‹Wunschkind› die Rede. Auch in der Medizin spricht man kaum mehr von künstlicher Befruchtung, sondern von medizinisch assistierter Reproduktion.»

Gesund wie andere Kinder
Sybilla S. spricht selten und nur in vertrauten Kreisen über ihre Zeugung ausserhalb des menschlichen Körpers. Zuweilen würde sie gefragt, ob menschlich und ethisch alles erlaubt sei, was medizinisch machbar sei. «Ich bin nicht Ärztin geworden, sondern Gärtnerin», sagte Frau S. und lächelte vielsagend. Mittlerweile wisse man aus vielen Untersuchungen, dass «Wunschkinder» genau so gesund aufwachsen würden wie ihre spontan gezeugten Altersgenossinnen. Wunschkinder würden keine besonderen Auffälligkeiten zeigen, weder in der psychosozialen Entwicklung noch in der Beziehung zu den Eltern.

«Kinder haben aber feine Antennen, was den psychischen Stress ihrer Eltern angeht», fügte Sibylla S. dann noch an. So habe sie erfahren, dass ihre Mutter sie früher als der Vater über den Hergang ihrer Zeugung informieren wollte. Mit Hilfe von Kinderbüchern und einer Psychologin sei man dann behutsam, irgendwie «natürlich» an das Thema herangegangen.

Von ihren Eltern hat sich Sibylle S. seit jeher geliebt und angenommen gefühlt. Und nun, was ist ihr grösster Wunsch? «Bald selber Mutter zu werden»! Sollte eine natürliche Zeugung nicht möglich sein, würden Sibylle S. und ihr Partner ohne weiteres auf eine medizinisch assistierte Reproduktion zugehen.

Lydia Guyer-Bucher