Glauben heisst …

«Glauben heisst Nicht-Wissen», sagten mir schon viele Leute. Und sie haben in gewisser Weise recht: Glaube im religiösen Sinn ist etwas ganz und gar anderes als naturwissenschaftliches oder historisches Wissen. Er ist viel mehr …

 

Verantwortungsvoller, nicht-fundamentalistischer Glaube an Gott nimmt naturwissenschaftliches und historisches Wissen ernst. Er lässt sich davon befragen: Inwiefern stimmen naturwissenschaftliche und historische Erkenntnisse mit meiner Vorstellung der Menschen unserer Welt überein? Wo stellen sie mein Menschenbild und Gottesbild infrage?

Glaube muss sich verändern lassen
Glaube bleibt – nicht nur, aber auch – aufgrund des Dialogs mit den Wissenschaften ein lebenslanger Prozess. Wenn er lebendig sein will, muss sich Glaube immer wieder verändern, sich hinterfragen lassen. Dadurch kann er wachsen und tiefer werden.

Doch der Glaube bezieht sich nicht auf etwas, das wir beweisen, berechnen oder messen könnten. Wenn jemand meinte, Gottes «Existenz» beweisen oder widerlegen zu können, so wäre das, was «bewiesen» oder «widerlegt» würde, bestimmt nicht Gott. Denn es ist ja gerade das Kennzeichen von Glauben, dass er sich auf etwas bezieht, das uns Menschen und das Universum übersteigt und daher nicht beweisbar ist.

Glaube fragt daher nicht: Was kann ich wissen? Wie ist die Welt entstanden und wie funktioniert sie? Glaube fragt vielmehr: Was darf ich hoffen? Worauf kann ich vertrauen? Was gibt dem Leben Sinn?  So gesehen ist Glauben tatsächlich etwas ganz anderes als ein historisches oder naturwissenschaftliches Wissen. Einiges, was für mich Glauben heisst, werde ich im Folgenden beschreiben.

Glauben heisst staunen
Glauben heisst für mich zuallererst Staunen – Staunen darüber, dass es überhaupt ein Universum gibt: eine Welt mit ihren Sonnensystemen und ihren Amseln, eine Welt mit ihren schwarzen Löchern und ihren Blumen – ein Universum auch mit uns Menschen, auch mit mir ganz persönlich. Das alles ist nicht selbstverständlich. Es könnte ja auch einfach nichts sein.

Aus diesem Staunen heraus erwachsen Fragen: Warum gibt es das alles? Was bedeutet es, dass es ein Universum gibt, was bedeutet es für mich, für uns? Und zudem auch: Was bedeutet es, dass wir Menschen ein Ich-Bewusstsein haben und dass wir staunen können; über das Leben, über das Lachen und Spielen von Kindern, über die Schönheit von Blumen und Schmetterlingen?

Glauben heisst suchen
Wenn wir leben wollen, müssen wir nach genügend Nahrung, Schutz vor Kälte und Hitze usw. suchen, und wenn das Leben weitergehen soll, ebenso nach Fortpflanzungsmöglichkeiten. Es ist schon erstaunlich, dass dieses Leben-Wollen in uns Menschen und Tieren und allem Lebendigen irgendwie enthalten ist.

Noch erstaunlicher erscheint mir, dass wir Menschen gewöhnlich nicht nur nach dem Überlebensnotwendigen suchen, dass wir nicht einfach nur irgendwie leben oder überleben wollen. Wir suchen vielmehr nach einem glücklichen, echten Leben.

Noch weiter gehen wir, wenn wir nicht nur für uns selbst nach einem würdigen Leben suchen, sondern auch für andere, ja für alle Menschen und Tiere. Dies ist verbunden mit der Suche nach ethischen Werten, nach guten Regeln des Zusammenlebens.

Diese Suche ist so alt wie die Menschheit. Und sie ist in allen ernsthaften Religionen zentral. Religionen halten über Generationen hin Forderungen aufrecht wie: du sollst nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen bis hin zur goldenen Regel: Behandle Menschen so, wie du selbst behandelt werden willst (Mt 7,12). Ich sage nicht, dass dies nur Religionen tun. Aber sie tun es zentral, mit einer «konservativen Trägheit», die teilweise nötig und beizubehalten (z.B. nicht töten), teilweise aber auch ärgerlich ist und einer Ethik in der aktuellen Gesellschaft entgegensteht (z.B. die notwendige Gleichberechtigung der Geschlechter; die Rechte von LGBTIQ; Anm. der Red: Dies ist die Abkürzung der englischen Ausdrücke für  Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transgender …).

Die Suche nach Ethik und Menschenwürde ist im Menschen irgendwie angelegt beziehungsweise gewachsen, so dass Menschen 1948 auch zu einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden haben.

Dies alles ist nicht selbstverständlich. Meiner Meinung nach hängt das Suchen nach ethischen Werten mit der Suche nach Sinn zusammen. Diese ist zumeist verknüpft mit der Suche nach Göttlichem, nach Gott.

Glauben heisst hinterfragen und zweifeln
Glauben heisst auch Hinterfragen und Zweifeln. Denn der Glaube an Gott ist nicht selbstverständlich. Er wird zudem durch vieles infrage gestellt, mit am stärksten durch die Erfahrungen von Leid und Sinnlosigkeiten: Warum ist diese Welt nicht besser, wenn sie eine gute Schöpfung eines guten Gottes ist?

Zwar sind wir Menschen für viel Leid und Elend selbst verantwortlich und könnten es vermeiden. Aber es gibt auch Leid und Zerstörung, die nicht vom Menschen beeinflusst sind: Erdbeben und Vulkanausbrüche aufgrund der Plattenverschiebung der Kontinente, Tsunamis schon in uralten Zeiten und vielerlei Krankheiten. Warum herrscht im Evolutionsprozess seit Urzeiten ein Fressen und Gefressenwerden?

Meiner Meinung nach haben wir auf dieses Warum religiös und philosophisch keine überzeugende Antwort. Wir müssen die Frage offenlassen. Es ist einfach so. Als gläubige Menschen stellt sich zudem die Frage: Wo ist Gott in all dem Leid? Auch die Menschen zur Zeit der Psalmen kannten diese Frage:

«Tränen sind mein Brot bei Tag und bei Nacht;

denn man sagt mir ständig: Wo ist denn dein Gott?

Meine Seele, warum bist du mutlos

und bist so verzweifelt in mir?» (Ps 42,4-5)

Glauben heisst hoffen
Glauben heisst hoffen: hoffen, dass Leid und Schrecken nicht das Letzte sind; dass hier und jetzt ein würdiges Leben für alle möglich ist; dass wir eine menschliche Asylpolitik betreiben können; dass wir als einzelne Menschen und als Staatengemeinschaft Frieden erreichen können; dass wir den Klimawandel stoppen können.

Solches Hoffen führt zu tatkräftigem Handeln. Es befreit aus Ohnmacht und Resignation und ermutigt zum Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Was wären wir ohne solche Hoffnung für unser Leben und unsere Welt?

Glauben heisst vertrauen
Viele Leute heute denken – und manche Epochen in der Religions- und Kirchengeschichte forderten – Glauben sei vor allem ein (rationales) Für-wahr-Halten von bestimmten Glaubensaussagen (Gott erschuf die Welt in sieben Tagen; die Sintflut geschah so, wie beschrieben usw.).

Doch Glauben ist viel stärker ein Vertrauen als ein Für-Wahr-Halten: darauf vertrauen, dass mir Gott in der ehrlichen Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften begegnen kann, ebenso wie in einem hilfsbedürftigen Menschen, im Gottesdienst und im Gebet, im Geniessen und Bewahren der Natur. Vertrauen darauf, dass ethisches Verhalten richtig ist, selbst wenn es persönliche Nachtteile mit sich bringt.

Glauben heisst vertrauen, dass Gott solidarisch ist mit jenen Menschen, die sich für Menschenwürde, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, gerade wenn sie aufgrund ihres Engagements leiden. Letztlich ist dieses Vertrauen auch die Botschaft des Kreuzes: Dass Gott gerade in Jesu Schrei der Gottverlassenheit zutiefst mit und in dem gekreuzigten Jesus von Nazareth war – und dass der Tod nicht das Ende ist.

Dass Glauben ganz zentral Vertrauen heisst, betonte der Reformator Martin Luther (1483-1546) immer wieder. Berühmt geworden sind seine Worte:

«Einen Gott haben bedeutet, etwas haben, an das ich mein Herz hänge und dem ich unbedingt vertraue […] Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.»

Glauben heisst lieben
Woran «häng’ ich mein Herz?» Die Aussagen von Martin Luther führen mich zu einer weiteren Dimension des Glaubens: Glauben heisst lieben. Nach dem wichtigsten Gebot gefragt, zitierte Jesus von Nazareth zwei Stellen aus der Torah und verband sie miteinander: «Liebe Gott» und «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» (Mk 12,28-31). Beides gehört zusammen: Gott zu lieben, bedeutet den Nächsten zu lieben; den Nächsten zu lieben, bedeutet Gott zu lieben.

Liebe zum Nächsten ist konkretes Handeln, tatkräftige Hilfe (Lk 10,29-37). Und der Nächste ist jeder Mitmensch, selbst ein Feind und besonders die Menschen, die meine Hilfe brauchen: Arme, Verletzte, Kranke, Flüchtlinge, Fremde, Gefangene (Mt 25,31-46).

Dass die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen unauflöslich zusammengehören, kann auch in folgender Aussage des ersten Johannesbriefes gesehen werden:

«Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm/in ihr.» (1. Joh 4,16)

Und was heisst Glauben für Sie? Glauben heisst …

André Flury
Leiter von Kirche im Dialog Bern, Dozent für Homiletik an der Universität Luzern und Herausgeber von glaubenssache-online.ch