Bürgerrechte statt Menschenrechte

Der emeritierte Theologe Adrian Holderegger gehört zu den 120 Religionsvertreterinnen und -vertretern, welche die Deklaration für gleiche Bürgerrechte vor dem Forum der Uno in Genf mitunterzeichnet haben.

Ranghohe Repräsentanten der sechs grossen Weltreligionen verabschiedeten am Uno-Sitz in Genf eine Deklaration mit einem ZehnPunkte-Programm, deren neuer gemeinsamer Referenzpunkt die Bürgerrechte – und nicht mehr die Menschenrechte – sind. Mit dabei war der emeritierte Freiburger Moraltheologe und Ethiker Adrian Holderegger. Den Freiburger Nachrichten  gibt er nun Einblick.

Adrian Holderegger, welchen Stellenwert hat diese Deklaration der Weltkonferenz der Religionen?
Sie stellt eine wichtige weitere Etappe im interreligiösen Dialog dar, nachdem der Dialog über das Engagement der Religionen für die Menschenrechte während Jahren aus verschiedenen Gründen blockiert war. Mit diesem Dokument verpflichtet man sich für die Durchsetzung von gleichen Bürgerrechten für alle in den jeweiligen Gemeinwesen also auch für religiöse Minderheiten, namentlich in stark religiös geprägten Staaten. Dies ist das erste Mal, dass die wichtigsten Religionen ein Dokument vor dem Forum der Uno verbindlich unterzeichneten. Einem Paradigmenwechsel kommt es gleich, wenn man sich für die Gesellschaft und Politik nicht mehr direkt auf die Menschenrechte verpflichtet, sondern auf die Durchsetzung von gleichen Bürgerrechten. Sie sollen sich aber – was immer das heisst an den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientieren.

Welche Religionen waren an der Konferenz vertreten?
Es waren die sechs grossen Religionen anwesend: das Christentum, das Judentum, der Islam, der Buddhismus, der Hinduismus und der Konfuzianismus. Unterschrieben haben schliesslich sämtliche rund 120 Repräsentanten. Der Islam war zahlenmässig etwas stärker vertreten als das Christentum, weil es dort keine eigentlichen Religionsführer gibt, die eine Glaubensgemeinschaft vollumfänglich vertreten können. Aus diesem Grund wurde der Islam durch verschiedene Minister oder Imame vertreten.

Wie ist die Deklaration politisch zu werten?
Es handelt sich klar um eine Absichtserklärung, die auf einem Konsens beruht. Wichtig ist aber auch, dass sich die Weltkonferenz vor der Uno zu einem Audit verpflichtet hat. Das heisst, dass man nach fünf Jahren Rechenschaft darüber abgibt, wie weit sich die Religionen in der Förderung und Implementierung dieser gleichen Bürgerrechte engagiert haben. Hierfür ist eine gemischte Taskforce vorgesehen.

Was ist genau mit den Bürgerrechten gemeint?
Die Bürgerrechte sind Rechte und Pflichten, die das Verhältnis der Bürger zum Gemeinwesen regeln. Sie sind in der Regel mit der Staatszugehörigkeit gegeben und werden auch vom Staat festgelegt. Menschenrechte dagegen sind dem Menschen qua Mensch gegeben unabhängig von Ethnie, Religion oder Nation. Sie sind also dem Staat und den Bürgerrechten vorgeordnet. Zu den Bürgerrechten gehört beispielsweise das Stimm- und Wahlrecht, das begründeterweise eingeschränkt werden kann. Dazu gehört gemäss der Deklaration aber auch die «Achtung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau». Dies ist selbstverständlich ein schwieriger Punkt, wenn man bedenkt, dass in den abrahamitischen Religionen das Recht der Männer im Vergleich zu den Frauenrechten zumeist stark überdehnt wird. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass sich alle an der Konferenz vertretenen islamischen Richtungen für die Gleichstellung von Männern und Frauen stark machen wollten.

Wer vertrat das Christentum?
Seitens der katholischen Kirche war Kardinal Jean-Louis Tauran dabei, seitens des Weltkirchenrats dessen Generalsekretär Olav Fykse Tveit.

Wer hat die Konferenz organisiert?
Sie stand unter dem Patronat des Kronprinzen des Haschemitischen Königreichs von Jordanien, Hassan El bin Talal, der sich in der arabischen Welt seit Jahren für den interreligiösen Dialog engagiert. Er ergriff die Initiative, weil man in den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen musste, dass man sich im Bezug auf die Menschenrechte als einem normativen, international anerkannten Bezugspunkt nicht einigen konnte. Dieser Kodex von universellen Normen, die den Menschen und seine Umwelt schützen wollen, wird verschiedentlich und bis in unsere Tage bestritten, nicht so sehr vom Christentum, vielmehr vom Islam, weil dort die Auffassung herrscht, dass die letzte moralische Autorität bei der Scharia, dem islamischen Recht, liegt. Die Menschenrechte gelten nur, wenn sie dem göttlichen Gesetz nicht widersprechen. So hat die Islamische Konferenz 1990 in Kairo eine eigene, scharia-konforme Menschenrechtserklärung verabschiedet. Doch nun glaubt man in den Bürgerrechten eine gemeinsame Plattform gefunden zu haben.

Welchen Erfolg versprechen Sie sich von dieser Deklaration?
Einen Aufbruch im zwischenreligiösen Gespräch. Gerade weil das Verhältnis von Bürgerrechten, Menschenrechten und universellen Werten unbestimmt ist, eröffnet dies ein weites Feld für Debatten und Verständigungen. Papst Franziskus ist hierfür in seinen letzten Reden ein sprechendes Beispiel. Vor allem erwarte ich in den islamisch geprägten Weltgegenden eine Dynamisierung des Gesprächs über die eigenen Traditionen. Und wer weiss, wo wir in fünf Jahren stehen werden?

Zur Person
Uno-Botschafter für den Frieden

Der 74-jährige Adrian Holderegger lehrte von 1982 bis 2012 theologische Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Er gehört dem Kapuzinerorden an und ist unter anderem Mitglied der Kommission «Würde der Tiere» des Bundesamts für Veterinärwesen. Ausserdem amtet er bei der Uno schon seit dem Jahr 2009 als Ambassador for Peace.

Jean-Claude Goldschmid,
Freiburger Nachrichten
Samstag, 23. November 2019