Zehn kleine Schweizerlein …

Ist die Schweiz wirklich so einzigartig?

Swissness ist zwar ein schillernder Begriff. Doch wer nach konkreten Inhalten sucht, der stutzt und fragt sich bald, ob es dabei nur ums liebe Geld geht.

Es gab einmal ein Lied von den «Zehn kleinen N …». Wer reinrassige Schweizer Spezialitäten oder Produkte sucht, dem geht es wie jenen in diesem heute als rassistisch empfundenen Lied. Bei den «Zehn kleinen Schweizerlein» hat eines hier und ein anderes da einen Makel und fällt weg. Schliesslich bleibt nichts, was ursprünglich schweizerisch ist.

Wunderbare Abfahrt

Ist das eine wunderbare Abfahrt! Diese Skitour im Muotathal ist ein Hit! Dankbar bin ich für solche Landschaften und froh, dass es sie in der Schweiz (noch) gibt. Ich bin mit einem Kollegen aus dem Muotathal unterwegs. So gehen wir zum Nachtessen zu Verwandten von ihm, die Bergbauern sind.

Als Städter bin ich gespannt auf die Begegnung mit einer mir fremden Welt in der Urschweiz. Da lebt doch noch echte Swissness?! Das ist nicht wie bei uns in der Stadt, einem nationalen und internationalen Völkergemisch …

Urschweizerisches Znacht

Beim Bruder meines Kollegen angekommen gehen die beiden Männer in den Stall. Es wartet eine Inspektion der Kühe auf die Viehzüchter. Von einer ganzen Schar Kinder werde ich in die Küche begleitet. Ihre Mutter ist am Zubereiten des Nachtessens. Es brutzelt eine goldene Rösti (der Duden kennt den Begriff nicht, der Schweizer Wahrig schreibt: «schweiz.: geraspelte Bratkartoffeln»). Das Wasser läuft mir schon im Mund zusammen.

Die Kinder nehmen mit mir am schlichten Tisch Platz. Jeder bekommt eine Kachel mit  dampfendem Kaffee oder Ovomaltine, je nach Alter. Mit der rechten Hand umklammern alle eine Gabel. Mit vier Geschwistern komme ich selber aus einer städtischen Grossfamilie und meine Mutter musste oft hören: «Die arme Frau».

So begreife ich schnell: Das gibt eine Schlacht um die feinen, goldenen Kartoffeln. Aufmerksam mustern Augenpaare ihre Konkurrenz am Tisch. Unruhig gehen die Blicke im Kreis. Ich höre die Stille und könnte direkt einen Western drehen, Löffel statt Colts in der rechten Hand. Jeder versucht sich cool zu geben. Die gespannte Ruhe vor dem Ziehen.

Das ging daneben

Energisch dreht die Frau die Rösti in der grossen Bratpfanne und es zischt.  Und plötzlich, mit einer schwungvollen Bewegung, platziert die Bauersfrau die Pfanne mitten auf den Tisch. Instinktiv ist mir klar, in der Urschweiz braucht es keine Teller für eine feine Rösti. Viele Hände klammern sich um den Löffel. Ich höre meinen eigenen Atem.

Die Frau setzt sich an den Tisch und sagt: «Der Kapuziner beginnt!» Das muss man mir bei einem solchen Duell nicht zwei Mal sagen. Meine Rechte schnellt empor und positioniert sich samt Löffel in der mit viel Butter goldgelb gebratenen Rösti. Siegesgewiss kreist mein Blick in die Runde.

Lange Gesichter schauen mich, dann die Mutter an. Da ist etwas schief gelaufen. Viele Fragezeichen  fliegen durch den Raum. Ich werde zu Stein. Die Stille scheint zu explodieren. «Der Bruder betet im Kloster genug», höre ich die Bauersfrau sagen und sie beginnt mit einem mir unbekannten Tischgebet. Lachend beten die Kinder mit. Da hat einer die Gabel zu früh gezogen.

Grundlagen sind Import

Nun habe ich gelernt, dass man in der Urschweiz teilweise noch betet vor dem Essen – übrigens kein  Zeichen von Swissness. Denn in Schweizer Familien erlebe ich das heute sehr selten. Aber bei den Kapuzinern wird vor  dem Essen gebetet. Und so bete ich heute manchmal als Vorbeter, wenn es abends Kaffee und Rösti gibt:

«Lieber Gott, wir danken dir für Yolanda Shirima, die Kakaoerntnerin in Tansania, die uns diese leckere Ovomaltine ermöglicht. Wir danken dir für François, den Kaffeepflücker aus Ruanda, der uns diesen feinen Kaffee erst ermöglicht. Wir danken dir für Franz, den Muotathaler Bergbauer und Kuhzüchter, der die gesunde Milch gemolken hat. Wir danken dir für die Abenteurer und Seefahrer, die uns die Kartoffel von Lateinamerika nach Europa gebracht haben. Wir schliessen alle diese Menschen in unsere Tischgemeinschaft ein und wollen uns für gerechte und ökologische Produktionsbedingungen einsetzen. Segne du, Schöpfer und Lenker der Welt, die Menschen, die uns dieses feine Essen ermöglichen, wie auch unsere Tischgemeinschaft, die sich hier in deinem Namen versammelt. Darum bitten wir durch Christus, unseren Bruder und Freund. Amen.»

Christentum als Schweizer Importreligion

Als Kapuziner staune ich über die Leistung meiner Mitbrüder Missionare in den letzten hundert Jahren. Gerne erntete ich bei meiner Tansaniareise etwas vom Ruhm dieser Pioniere aus der Schweiz. Tansanische Menschen  sagten bei meiner Reise oft dankend. «Ihr Schweizer habt uns Schulen gebracht.» Ein Bischof meinte: «Ihr habt uns den Glauben an Jesus Christus gebracht.» Aus der Schweiz sind vor bald hundert Jahren wagemutige Kapuziner aufgebrochen und haben das Evangelium von Jesus Christus – übrigens auch  kein Schweizer – in die ganze Welt gebracht.

Doch auch wenn Glauben in der Schweiz viele helvetische Eigenschaften entwickelt hat – im Ausland wird des Öfteren betont, dass der Schweizer Katholizismus anders sei – so stammt der verkündete Sohn Gottes aus einem  fremden Land.

Es waren nach den Legenden viele ÄgypterInnen, die uns das Christentum gebracht haben. Die heilige Verena beispielsweise, welche dem Jura entlang  von Süden gegen Norden zog, soll ihrem Geliebten, der in einer ägyptischen römischen Division gedient hat, aus Ägypten über Mailand in die Schweiz  nachgefolgt sein.

Auch Gallus war kein Schweizer. Die HistorikerInnen diskutieren nun, ob er ein Ire oder ein Franzose war. Das Christentum ist also auch kein Ausdruck  von Swissness, obwohl es da schon erkennbare helvetische Formen gibt wie die Laienpredigt oder Bussgottesdienste mit Absolution.

Swissness als Marktvorteil

Am 24. März 2006 reicht Anita Fetz das Postulat «Verstärkung der Marke Made in Switzerland» ein, das am 9. Juni 2006 im Ständerat behandelt wird. «Wo Schweiz draufsteht, soll auch Schweiz drin sein», fordert sie. In ihrer Argumentation, wie auch in der Antwort des damaligen Bundesrats Christoph Blocher, geht es bei «Made in Switzerland» oder «Swiss Quality» (englische Begriffe!) um Wirtschaftsfragen. Dabei steht nach Christoph Blocher «Made in Switzerland» für positive Werte wie Qualität, Exklusivität, Tradition und  Innovation. Missbräuche soll das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum prüfen.

Auf der Homepage des Eidgenössischen Institutes für Geistiges Eigentum (www.ige.ch) wird das Gesetzgebungsprojekt «Swissness» vorgestellt. Da steht unter «Marke Schweiz»: «Schweizer Produkte und Dienstleistungen geniessen im In- wie im Ausland einen hervorragenden Ruf. Sie gelten als zuverlässig und qualitativ hochwertig. Der wirtschaftliche Mehrwert ihrer  schweizerischen Herkunft ist beträchtlich. Immer mehr Unternehmen nutzen diesen Bonus – nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Wettbewerbsintensität auf den Weltmärkten. In einer Umfrage aus dem Jahr  2005 haben über die Hälfte der antwortenden Unternehmen angegeben, dass sie die Marke «Schweiz» als Co-Brandeinsetzen, wobei 40% dies in  den nächsten fünf Jahren noch stärker tun wollen». (29.12.2011)

Erstaunt stelle ich fest, dass es im Parlament oder beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum nicht um die humanitäre Tradition der Schweiz geht – ok,  ist vielleicht auch ehrlicher – und auch nicht um Schweizer Brauchtum oder Verhalten. Geschützt werden nicht Schweizer Werte, sondern Schweizer Produkte. Diese lassen sich mit der Marke Schweiz gut vermarkten.

Lebendige Traditionen

Einen ganz anderen Zugang zur Swissness finde ich im Eidgenössischen Departement des Innern EDI im Bundesamt für Kultur BAK. Für die Umsetzung der UNESCO-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes wurde eine Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz erarbeitet und am 5. September 2011 publiziert.

Wenn ich die vielen (Arbeits-)Titel durchgehe, komme ich mir jedoch bald etwas fremd vor. Albanifest – Alpverlosung – Bechtelistag – Bochselnacht – Bootschnen??? usw. Zum Glück soll bald eine Dokumentation dieser lebendigen Traditionen in der Schweiz publiziert werden. Denn bei einem Einbürgerungstest würde ich glattweg durchfallen! Auch zeigt die Liste, dass es in der Schweiz eher kantonale und regionale Traditionen gibt. Nicht einmal die Fasnacht kann als gesamtschweizerische Tradition betrachtet werden.

Sorgfalt und Qualität

Eine überzeugende und einzigartige Swissness habe ich nicht gefunden. Da müssen und sollten wir SchweizerInnen vielleicht etwas  kürzer treten.

Wir sind ein spezielles Völklein, das ist klar. Doch sind wir auch eine offene  Festung für Steuerflüchtlinge und korrupte Rohstofffirmen,obwohl wir selber  fast keine Rohstoffe haben.

Trotzdem, hier ein kurzes Plädoyer für eine Swissness, wie sie mir behagt und behagen würde. Ich bin stolz darauf, dass wir Schweizer als private Menschen Spendeweltmeister sind. Ich bin glücklich, dass wir fähig sind, unsere manchmal auch heftigen Konflikte so ziemlich friedlich zu lösen. Ich geniesse es, dass wir fähig sind, aus Kakaobohnen gute Schokolade, aus Kaffeebohnen guten Milchkaffee oder auch Entlebucherkaffee und auch aus Kartoffeln feine Rösti zu machen. Froh bin ich, dass ich zumeist in einem einigermassen sauberen Land lebe und die  Arbeit im Grossen und Ganzen seriös und gekonnt gemacht wird.

Stolz auf Swissness

Ich habe nicht den Eindruck, dass Qualität, Tradition und Innovation primär exklusiv schweizerisch sind. Doch ist es gut und schön, wenn wir solche  Werte hochhalten und möglichst gut in unserem eigenen Land sowie in unserer gemeinsamen Welt einbringen. Auf der Suche nach den zehn reinen, kleinen Schweizerlein bin ich nicht fündig geworden. Denn dann bliebe mir keines mehr.

Adrian Müller

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Schweiz als Heimat

WLu. Vor Jahren begleitete ich Kinder aus Norddeutschland nach ihren Schweizer Ferien nach Hause. «Bleibst du bei uns in Deutschland?», fragte mich erwartungsvoll ein kleiner Junge. «Nein, ich muss wieder zurück.» Ich werde gefragt, warum. «Ich muss dort arbeiten», sagte ich, weil ich ja etwas antworten muss. «Nein, weil die Schweiz deine Heimat ist», entgegnete mir ein Kind. Ich fühlte mich ertappt …