Denken in Bewegung

Denken ist Bewegung. Denk-Bewegung. Denken heisst, sich bewegen und bewegen lassen. Menschen, die sich weder bewegen noch bewegen lassen, denken nicht. Bewegungen machen klug.

Wir wissen heute, dass die Hirn-Areale für Motorik und abstraktes Denken immer gleichzeitig in Bewegung versetzt werden. Das Denken ist keine vom Körper losgelöste geistige Angelegenheit. Es ist untrennbar mit unseren Körpern verbunden. Robbend und krabbelnd be-greifen wir Weltneulinge, was wir als Lebenswelt vorfinden. In Bewegung denken wir.

Pilgerreisende wissen um diesen Zusammenhang. Pilgern ist ein spiritueller Prozess – und dies nicht nur im religiösen Sinne. So jedenfalls habe ich das immer wieder erfahren, wenn ich lange unterwegs war. Gehe ich Wege, mache ich Erfahrungen, erkunde Welten und trete in mannigfaltige Beziehungen.

Beten mit den Füssen
Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen! Dabei denke ich nicht nur an Grossartiges, sondern auch an scheinbar Unbedeutendes oder Unspektakuläres. Ein unverhofftes Lächeln, ein Händedruck vielleicht. Das Schlüpfen einer Libelle oder das Wiegen eines Baumes im Wind. Der Ausdruck «Beten mit den Füssen» scheint mir mit Bedacht gewählt.

Das Umhergehen eröffnet neue Sicht- und Denkweisen, schafft bereichernde Begegnungen, erweitert den Horizont. Bewegung heisst, Veränderungen erleben. Das kann beglücken, muss aber nicht. Ein Leben in Bewegung kann Menschen auch verängstigen. Schritte hinein in Neues, Unbekanntes, Ungewisses, Fremdes fordern uns heraus im wahrsten Sinne. Sie führen heraus aus der Enge der bisherigen Grenzen hinein in noch Unbekanntes. Heimeliges, Vertrautes aufzugeben, kann auch bedrohlich, manchmal sogar lebensbedrohlich sein.

Dauerhaft in der Fremde
Immer häufiger begegne ich Menschen, die sich nicht mehr zu beunruhigen und zu destabilisieren getrauen. Sie wollen nicht im Strudel der Selbstverunsicherung fortgespült werden.

In Zeiten totaler Mobilität leben wir dauerhaft in der Fremde. Wir sind verwickelt in unzählige Veränderungsprozesse und Anpassungskrisen. Unser ganzes Tun, unsere Gewohnheiten, Erklärungen und Ortsbestimmungen sind fragwürdig geworden. Von Dauer ist einzig noch das Provisorium. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Als Dauerbewegte leben wir in chronisch unsicherem Gelände. Die pausenlose Wanderschaft kann auch pathologisch werden und in eine währschafte Überforderungsfalle führen. Bewegung im Übermass ist ungesund – zu wenig allerdings auch!

«Im Horizont des Unendlichen»
Friedrich Nietzsche hat die Problematik und das Anspruchsniveau des Aufbrechens treffend beschrieben: «Im Horizont des Unendlichen. – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit. O des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre – und es gibt kein Land mehr.» (F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft)

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum sich Heerscharen von Menschen auflehnen gegen eine durchbewegte Welt, die keine absolute Wahrheit, kein Oben und Unten mehr zu kennen scheint und alles als relativ betrachtet.

Alle Dinge im Rutschen
Sind erst einmal alle Dinge ins Rutschen gekommen, sehnen wir uns nach sicheren Fundamenten. Eine Welt aus den Fugen ist kein Aufenthaltsort. Also greifen wir wahllos nach jedem Haltegriff. Wir wünschen uns nichts mehr als unzerstörbar feste Dämme gegen alles, was sich bewegt.

Es schlägt die Geisterstunde der unseligen, fundamentalistischen Heilsverkünder und ihrer Gefolgschaften. Sie restaurieren die alten Dämme, errichten neue und versprechen heile Welten. Alles soll wieder sein, wie es immer war und auf ewig so bleiben.

An die Stelle des Zweifels, der generellen Ungewissheit und Unsicherheit setzt der Fundamentalismus sein absolutes Wissen. Die eigene Sichtweise wird zur absoluten Wahrheit verklärt. Widerspruch wird nicht geduldet, was Sinn macht befohlen.

Die Antworten sind immer schon vor den Fragen da. Andersdenkende werden ausgegrenzt oder einen Kopf kürzer gemacht. Fundamentalismen jeglicher Provenienz sind Begegnungsvermeidungsstrategien und damit veränderungsresistent. Stillstand statt Bewegung, absolute Wahrheiten statt Denk-Bewegungen. Das Angebot ist attraktiv.

Innehalten – unterbrechen
Die weltumspannenden Versuche hüftsteifer Metaphysiker und Verführer, die Welt in den Kältezustand absoluter Starre zu versetzen, sind allesamt zu tiefst lebensfeindlich. Sie kosten uns schlussendlich das Leben.

Leben ist Bewegung, Tod Bewegungslosigkeit. Lebendiges gibt es nur, weil es Bewegung und damit Verunsicherung gibt. Gehversuche sind immer risikobehaftet – trotz Sturzprophylaxe. Den festen Stand können wir nur dann aufgeben, wenn wir ein Bein hochheben und damit für einen kurzen Moment in den Zustand der Unsicherheit wechseln.

Leben ist Bewegung schlechthin. Wir atmen, gehen, denken – also leben wir noch. Dabei unterliegen wir dem Rhythmus von Anspannung und Entspannung, Aktivität und Ruhe. Wir sollten nicht nur das Bewegen üben, sondern auch das Innehalten, das Unterbrechen. Pausen sind für das Leben unverzichtbar. Sie sind Augenblicke oder Zeiten der Musse und der Welt- und Selbstbesinnung. Rastlose Wanderer in einer Welt ohne Ruhepausen ruinieren sich irgendwann.

Flexibilität
Der Mensch ist ein von Veränderungen betroffenes Wesen. Leben und Erleben heisst Veränderungen erleben. Leben und Denken in Bewegung aber kann nur gelingen, wenn wir damit leben lernen, dass der Boden unter unseren Füssen nie  ganz fest steht.

Der Pilgerreisende, egal ob gläubig oder nicht, wagt eine Reise. Er öffnet die Hände, die festhalten wollen. Wir müssen beweglich bleiben. Damit rede ich nicht einer Flexibilität das Wort, die Menschen entwurzelt. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Flexibilität leitet sich von der simplen Beobachtung ab, dass ein Baum sich zwar im Wind biegen kann, dann aber wieder zu seiner ursprünglichen Gestalt zurückkehrt, also quasi wieder zu sich selber findet.

Flexibilität bezeichnet somit das Vermögen, sich immer wieder wechselnden Umständen anpassen zu können, ohne dabei von ihnen gebrochen zu werden! Biegsamkeit, Dehnfestigkeit und Elastizität sind deshalb keine beliebigen Grössen. Sie haben ihre Begrenzung dort, wo Menschen jeder Halt und Stand genommen wird.

Neue Denk-Räume
Das Reisen will gelernt sein. Ermutigen wir uns, ins Freie zu treten. Unterwegssein hilft, erstarrte Begriffe oder festgefahrene Denkgewohnheiten als solche zu erkennen und neue Denk-Räume und unvermutete Perspektiven zu eröffnen.

In einer bewegten Welt braucht es Menschen, die gelernt haben, an sich und der Welt zu arbeiten. Mit den Füssen denken, dass sollten wir uns nicht selbst oder von anderen verbieten lassen. Es wäre klug, nicht nur Wandermönche oder Handwerksburschen in die Welt hinaus zu schicken.

Es ist kein Zufall, dass in totalitären Systemen die Menschen mit Gewalt festgehalten werden. Sie sollen nicht selber denken, sondern blind gehorchen.

Besser Denken im Gehen
Ich bin viel aufgestanden beim Schreiben dieses Textes. Ich musste Denkblockaden lösen, mein Denken wieder in Bewegung setzen. Wäre ich stur vor dem Bildschirm verharrt, mein Artikel wäre nie fertig geworden. Wir denken oft besser beim Gehen. Viele Philosophen hatten die besten Ideen beim Spaziergehen. Das kennen wir alle! Nietzsche sagt:

«Wir gehören nicht zu denen, die erst zwischen Büchern auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meer, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.» (F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft)

Denken in Bewegung ist ein Stück Lebenskunst, weil das Leben ein bewegtes ist und auch bleibt. Ich beende meinen philosophischen Spaziergang mit einem klugen Satz von Gottfried Benn: «Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn.» (G. Benn: Schleierkraut)

Roland Neyerlin

Der Autor
Roland Neyerlin, Welt- und Weltenreisender, «Philosoph auf der Walz». Langjährige Berufserfahrung als Heilpädagoge und Philosophielehrer. Studierte Heilpädagogik, Philosophie und Theologie in Zürich, Luzern und Berlin. Er ist Inhaber der Philosophischen Praxis Luzern und war Dozent beim NDS Philosophie und Management der Universität Luzern. 2011 erhielt er den Anerkennungspreis der Stadt Luzern. Er moderiert die philosophischen Gespräche «Wortwechsel» im Kleintheater Luzern.

Zur PDF-Version