Die Flucht – ein Drama

Was fröhlich im Sprachkurs beginnt, wird zur Anhörung eines Dramas. Das Vorurteil, Flüchtlinge würden leichtsinnig ihre Heimat verlassen, um bei uns ein bequemes Leben zu führen, gerät gehörig ins Wanken.

Selten habe ich mit Unbekannten so spontan gelacht wie im interkulturellen Frauentreff. Und das kam so: Zusammen betrachten wir an einem der ersten Kurstage das etwas vergilbte Foto eines (Schweizer) Kindes. Es geht nicht lange und die Fantasie der Frauen aus den neun verschiedenen Ländern beginnt zu sprudeln.

In holprigem Deutsch werden aus den hellen Locken schwarze Kraushaare und statt teuren Lackschuhen trägt das Mädchen auf dem Bild nullkommaplötzlich hellblaue Flipflops. Die Migrantinnen sind erleichtert, dass sie im Konversationskurs keine Vokabeln büffeln müssen. Und mir als Kursleiterin fällt die scheinbar einfache Aufgabe zu, bei der Themenwahl kaum Vorgaben zu machen.

Die Zeitreise

Die nicht mehr ganz junge Frau aus den Philippinen schreibt ihr unbekannte Wörter von der Wandtafel ins Notizheft, die flinke Bosnierin benutzt dazu ihr Handy. Die meisten Frauen sind entspannt. Bei jedem zu Stande gebrachten Satz leuchten die Augen. Ich trage die Begeisterung mit, korrigiere selten. Als wären sie Verwandlungskünstlerinnen, radebrechen die Frauen durcheinander, es gibt kein falsch oder richtig.

Im Spiel verfärbt sich der geblümte Faltenrock des Mädchens auf dem Bild in rosa, dann wieder in hellblau. Die Pausbacken verschwinden, bevor man sich einig ist, ob das Mädchen nun drei oder vier Jahre alt ist. Der Babyspeck an den Oberschenkeln des Mädchens wird weniger und die Beinchen wachsen plötzlich krumm wie Bananen.

Nur dank eines altbewährten Pflanzentrunkes wird alles gut und aus dem schüchternen Mädchen wird eine fleissige Schülerin, die gerne Ohrringe trägt und in der Schule kein Blatt vor den Mund nimmt. In der Zeitreise wächst das Mädchen rasch zu einer Schönheit heran. Es wird eine Pubertierende, eine Gebärende, eine Mutter, die ihr Kind liebt, es kitzelt und streichelt, bis es lächelt und gluckst vor Freude.

Die Stimmung

«Mutter nicht Freude.» Das ist die Stimme von Brikti. Sie stammt aus Somalia. Es wird ruhig im Raum, als die hübsche Afrikanerin das Wort «Flucht» anfügt. Jetzt wird die bunt zusammengewürfelte Gruppe von Frauen verlegen. Die meisten richten, wie einem geheimen Kommando folgend, ihre Blicke verschämt auf die Tischplatte. Als gäbe es dort etwas zu sehen, was es vor Briktis Worten nicht zu sehen gab. Verflüchtigt hat sich die anfänglich heitere Stimmung. Ist auch sie auf der Flucht?

Brikti schüttelt ihren Kopf. Sie beisst sich fast ihre Lippen blutig, nestelt mit zitternden Fingern an den Fransen des bunten Halstuchs. Während ich aufstehe und überlege, ob ich das Bild mit der fröhlichen, kleinen Schweizerin, über die wir zu Übungszwecken gesprochen haben, von der Wand holen soll, würgt Brikti den ganzen Satz hervor: «Ich Mutter, ich nicht Freude auf der Flucht.»

«Weggehen ist traurig»

Ein paar Kursteilnehmerinnen schauen Brikti an, ein verlegenes Lächeln hier, ein schüchternes Nicken dort. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Warten. Stille. Zaudernd reiche ich Brikti über den Tisch meine Hand. Sie versteht meine Geste als Aufmunterung zum Reden.

«Niemand geht freiwillig weg», sagt die Somalierin, «niemand. Weggehen ist traurig.» Und sie wiederholt, als ob wir sie nicht verstanden hätten: «Weggehen tut weh.» Fatemeh nickt. Sie stammt aus dem Iran. Ihr fliessen die Tränen über die Wangen, eine Syrierin reicht ihr ein Taschentuch, ein gefaltetes, weisses.

«Wir hatten Angst»

Die jüngste Frau in der Runde, sie stammt aus Sri Lanka, zaubert ebenfalls ein Tuch aus ihrem Ärmel, schnäuzt sich die Nase. Eine Pakistanerin tut es ihr gleich. Brikti faltet die Hände und setzt erneut zum Sprechen an: «In einer Gruppe von 17 Verwandten waren wir unterwegs», sagt sie.

«Wir liefen nachts, soweit unsere Füsse uns trugen und schliefen tagsüber. Unter Bäumen. Wir hatten Angst. Wir hatten Durst. Das Essen war bald aufgebraucht. Wir hatten Hunger. Und immer Angst.»

«Welche Grenze?»

«Das Kind wurde krank. Durchfall. Fieber. Husten. Kein Tee, keine Medikamente, keine Windeln, nichts. Ich wurde krank. Fieber. Doch wir mussten weiter. Immer weiter, von einer Grenze zur andern.»

«Welche Grenze?», will die Frau aus Mazedonien wissen, die Psychologin ist und von der ganzen Gruppe am besten Deutsch spricht, «welches Land? Welches Meer?»

«Das Kind ist tot!»

Brikti hört nicht hin, erzählt mit immer leiserer Stimme weiter. «Wir hatten Angst, gefunden zu werden», sagt sie, «immer Angst. Das Kind atmete schwer. Plötzlich sagte jemand: Das Kind auf deinem Rücken atmet nicht mehr! Das Kind ist tot!

Ich schrie lautlos durch die Nacht: ‚Mein Kind ist tot!‘ ‚Komm‘, sagte jemand, ‚komm, wir müssen weiter!‘ Wir mussten weiter. Immer weiter. Ohne Kind. Wir hatten noch einen langen Weg vor uns.»

Die Fragen

Ob die Somalierin die Geschichte ihrer Flucht in jedem Detail so erzählt hat, wie ich sie jetzt nacherzähle, kann ich nicht bezeugen. Zu betroffen war ich beim Zuhören und zu lückenhaft waren Briktis deutsche Sprachkenntnisse. Mit Ausnahme der Kursteilnehmerin aus Osteuropa getraute sich niemand, Brikti Fragen zu stellen.

Die Stunde war um. Brikti eilte zur Türe und verschwand. Ich hatte keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorging. Ich fragte mich, was sie alle dachten, diese Frauen aus Eritrea, dem Irak, der Ukraine, aus Chile, Kolumbien und den anderen Ländern. Hatten sie auch abenteuerliche Fluchten hinter sich?

Ich verabschiedete mich von den restlichen Kursteilnehmerinnen. Eilig fuhr ich mit dem nassen Schwamm über die Wandtafel. Die schönen Worte «streicheln», «lächeln» und «kitzeln» wurden ausgelöscht.

Alles zurücklassen

Nun war ich mit meinen Sorgen allein. Schwer hämmerten die Gedanken in meinem Kopf: «Was weiss ich schon, was es heisst, wegzugehen, alles zurückzulassen, sich auf einen Weg zu begeben, der im schlimmsten Fall mit dem Tod endet? Was weiss ich schon, was es heisst, nach dem gefahrvollen Unterwegssein anzukommen an einem Ort, wo ich im besten Falle die Kraft aufbringen werde, eine mir sehr fremde Sprache zu lernen?»

Wenn Brikti mittwochs wieder in den Konversationskurs kommt, werde ich sie, falls sie es zulässt, ein kleines Stück auf ihrem Weg begleiten.

Lydia Guyer-Bucher

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