Die unerklärliche Liebe zu Büchern

Entweder man liebt sie oder man liebt sie nicht: die Bücher. Dies meint unser Autor. Er versucht dennoch, die leidenschaftliche Liebe zu Büchern etwas begreiflicher zu machen.

Ein erster Gedanke. Wir schreiben das Jahr 1812. Genauer: den 13. Juli 1812. Ort der Handlung: London. An diesem denkwürdigen Tag wird die Bibliothek des Herzogs von Roxburghe, John Ker (1740-1804), versteigert. Eine seltene Ausgabe von Giovanni Boccaccios «Decamerone», 1471 gedruckt, wechselt für exakte 2`260 Pfund Sterling ihren Besitzer.

Um dieses ausserordentliche Ereignis gebührend zu feiern, treffen sich seither in der St. Alban`s Taverne an jedem 13. Juli die sehr ehrenwerten Mitglieder des Roxburghe Clubs, der ältesten bibliophilen Vereinigung der Welt. Salopper ausgedrückt: der erste Buchclub.

Indes anders als heutige Buchgemeinschaften, deren Ziel es ist, Mitgliedern gute Literatur möglichst preisgünstig zugänglich zu machen, feiern die Roxburghe-Anhänger die Tatsache, dass ein Buch für 2`260 Pfund Sterling versteigert wurde, als Ausdruck der, wenn auch nur finaziellen Wertschätzung des Gegenstandes Buch.

Pervertierte Liebe

Bibliophilie meint die Liebe zum Buch. Liebe aber ist einerseits immer eine bemerkenswerte Pflanze, die nebst wunderbaren auch stets recht eigenartige und seltsame Blüten hervortreibt, andererseits stets schwer zu beschreiben oder gar zu begründen.

Wie jede Liebe kann auch diese pervertiert werden. Man spricht dann gerne von Bibliomanie. Dieser Ausdruck oder auch der Begriff «Büchernarr» ist uralt. Er war schon vor der Erfindung des Buchdruckes gebräuchlich. Der Büchernarr sammelt einfach ziellos alles geschriebene oder gedruckte Material, ohne sich davon einen anderen Nutzen als den des Besitzes zu erwarten. Er liest die Bücher nicht; er sammelt um seiner Sammlung willen.

Anders der Bibliophile, der ganz gezielt sich auf eines oder mehrere Fächer spezialisiert, der vielleicht nur Frühdrucke, sogenannte Inkunabeln sammelt, also Bücher, die bis und mit dem 31. Dezember 1499 erschienen sind. Oder er sammelt nach thematischen Gebieten; Erotika, Kinderbücher und ähnliches mehr sind beliebte Objekte. Oder er sammelt die Ausgaben eines bestimmten Druckers.

Der Sammler

Schliesslich gibt es noch den eigenbrötlerischen Quer-Durch-Den-Garten-Sammler, dessen Bibliothek erst nach einigen Jahrzehnten ein Profil anzuzeigen beginnt. Ich betrachte solche Bibliotheken gerne, die wie farbige Landkarten auf mich wirken. In den bunten Reihen der Bücher entdeckt man plötzlich die grossen Flecken der Gesamtausgaben. Man weiss dann, welchen Autoren sich der Leser besonders vertiefend verbunden fühlt. Da ist der blaue Balken Hesse, da sind die braunen Streifen Goethe und Gotthelf, da ist der graue Block Stifter.Wie ein weisses Schneefeld liegt Nietzsche gesammelt und gebunden im Gestell.

Im Unterschied zu dem Sammler von ausschliesslich wertvollen Büchern ist dem wahrhaft bekennenden Bücherfreund auch das Reclam-Heftchen von Gottfried Kellers «Kleider machen Leute» lieb, weil sich darin die Bleistiftanmerkungen der ersten Schulfreundin erhalten haben. Ihm ist die Taschenbuchausgabe von Hegels «Phänomenologie des Geistes» lieb, weil die farbigen Unterstreichungen darin ihn demütig erinnern lassen, mit wie grosser Schwierigkeit er sich durch den Text ins Schlaraffenland des Geistes durchgekämpft hat. Ihm ist die französische Boethius-Edition (französische Broschur, mit Holzschnitten) deshalb wichtig, da sie ihm eine andere Freundin, Jahre später, nur deshalb schenkte, weil sie diese auf einem Flohmarkt gefunden hatte und wegen dem Wort «Philosophie» im Titel an ihn als Leser denken musste. Ihm ist auch das Märchenbuch aus seiner Kindheit wichtig.

Glückliche Menschen

Er tut zudem Dinge, die ich als Bibliothekar öffentlich zugänglicher Sammlungen nie und nimmer dulden darf: Er legt als Lesezeichen Briefe oder Karten in das Buch, die in einer Beziehung zu demselben stehen, im Extremfall auch Blumen (meistens in Gedichtbänden der Romantik).

Aber genau das macht den feinen und entscheidenden Unterschied aus: Eine Privatbibliothek ist nicht öffentlich. Der sich wahrhaft bekennende Bücherfreund sammelt nicht Bücher. Er dokumentiert seine Biographie, sein Denken und Leben. «Sammler», wusste schon Goethe, «sind glückliche Menschen».

Es ist zweifelsohne bewundernswert, wenn Menschen mit möglichst wenigen materiellen Dingen ihr Leben bestreiten können; zum Beispiel mit nur vier oder fünf Büchern. Aber mit welchen? Dem wahrhaft bekennenden Bücherfreund ist Lesen ein Grundbedürfnis wie Atmen. Auf einige wenige Bücher eingeschränkt wird er zum Asthmatiker. Es ist das Lesen, das ihm Freude macht, diese nach wie vor rätselhafte Beschäftigung mit den Buchstaben, dem Übersetzen von 25 oder 26 Zeichen in Sinn und Sinnhaftigkeit.

Hieroglyphen

Ein ganz anderer Gedanke. Jean-François Champollion entzifferte 1822 die ägyptischen Hieroglyphen. Dadurch wurde plausibel, weshalb Echnaton (1340-1324 v. Chr.) als Begründer der ersten monotheistischen Religion zu gelten hat. Mit anderen Worten: Religion hat mit Schriftlichkeit oder Literalität sehr viel zu tun. Nicht ohne Grund berufen sich alle monotheistischen Religionen auf ein Buch, auf eine Heilige Schrift.

Lesen und Schreiben sind einsame Tätigkeiten, aber sehr kreative (im Unterschied zum TV-Konsum oder ähnlichem). Der lesende Schreiber und der schreibende Leser konfrontiert sich zudem immer mit sich selbst; und das unter besten Voraussetzungen. Lesen und Schreiben oder – anders ausgedrückt: die Beschäftigung mit Buchstaben und Zeichen – ist immer ein höchst schöpferischer Akt. Man unterhält sich mit einem bekannten oder unbekannten Gegenüber. Man lässt sich überzeugen oder verführen. Man bringt seine Einwände an, kritisiert und verwirft.

Lesen bedeutet ja auch immer Aus-Lese. Mit nochmals anderen Worten: Der wahrhaft bekennende Bücherfreund liebt nicht das Buch als Gegenstand und schon gar nicht als finanzielle Wertanlage, sondern die Gedankenfreiheit, den Austausch von Gedanken unter maximal besten Voraussetzungen, den Mitmenschen hinter dem Buch, den Menschen gut- oder schlechthin. Er liebt die Schöpfung; zugegeben oft diejenige zwischen zwei Buchdeckeln mehr, als die andere.

Lesende Frau

Ein anderer Gedanke, mir lieb: das Bild einer lesenden Frau. Sie sitzt in einer offenbar mediterranen Gegend auf der Türschwelle eines Hauses und liest. Ihr Blick, ihre Körperhaltung ist ganz auf das Buch konzentriert. Sie nimmt ausser diesem nichts mehr wahr. Nicht die heisse Sonne, die schattenspendende Mauer oder die Katze, die sich gleich schnurrend an sie lehnen wird. Sie ist – wie man so zu sagen pflegt – nicht mehr von dieser Welt, sondern in einer ganz anderen.

Es ist dieses Sich-Ganz-In-Eine-Andere-Welt-Hineinversenken, das jedes Lesen so kostbar, verletzlich und einzigartig macht. Der lesende Mensch ist immer für andere abwesend, ganz bei sich, deshalb im wortwörtlichsten Sinn verletzlich und angreifbar. Er liest, er denkt, er meditiert und erlebt so neue Welten, neue Horizonte. Lesen ist nicht ohne Grund eine stille Tätigkeit, mit dem Popkornverzehr in einem lauten Kino absolut nicht vergleichbar.

Eigene Bücher

Nochmals ein anderer Gedanke ist die Liebe zu eigenen Büchern. Es ist ein billiges Klischee, Bücher mit eigenen Kindern zu vergleichen. Dieser Vergleich hinkt wie der Glöckner von Notre-Dame. Aber es ist schon ein besonderes Gefühl, das erste, eigene Buch, in Leinen gebunden und illustriert, in den Händen zu halten. Dazu eine Erinnerung.

Ich las in einer Schulklasse aus meinem Kinderbuch vor. Hinterher signierte ich einige Exemplare. Ein schmales Mädchen mit schwarzen Haaren, das mir schon aufgefallen war, als ich noch vorlas, stand scheu etwas abseits. Aufgefallen war es mir deshalb, weil es an den richtigen Stellen des Textes lachte oder vielmehr schmunzelte, als würde es die Handlung bereits seit langem kennen. Jetzt kam es auf mich zu, legte mir ihr Buch, aus dem ich vorgelesen hatte, auf den Tisch und sagte kein Wort. Ich betrachtete das Buch genauer. Ich habe noch selten ein so zerlesenes Buch gesehen, ein Buch mit Eselsohren, die Illustrationen farbig eingerahmt, zahllose Sätze unterstrichen. Das Mädchen hatte sein Buch, das ja auch irgendwie das meine ist, wohl zwanzig- oder gar hundertmal gelesen.

Ich sah dem Mädchen in die Augen und fragte: «Wie oft hast du denn das Buch schon gelesen?» Es stand da und sagte nichts. Es staunte mich mit grossen und braunen Augen an, wollte wohl etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Ich unterschrieb und gab ihr das Buch zurück. Auf dem Pausenplatz sah ich es nochmals. Es stand wieder abseits von den anderen und blickte verträumt in sein Buch.

Ich fragte den Lehrer, wer denn dieses Mädchen sei. «Ach ja», antwortete der Lehrer, «fast hätte ich es vergessen. Diesem Kind hat Ihr Buch ganz besonders gut gefallen. Es heisst Anna und kommt aus Italien.» Anna – so heisst auch die Hauptperson in meinem Roman für Kinder. Ich war in Eile, musste zum nächsten Schulhaus, zur nächsten Vorlesung, und das bestellte Taxi fuhr eben vor. Ich stieg ins Auto. Und erst dann, während der Fahrt, wurde mir schlagartig bewusst, was ich eben erlebt hatte. Dieses schmale, kleine Mädchen mit den schwarzen Haaren und den grossen, braunen Augen, mit dem total zerlesenen Buch auf dem Pausenplatz, – das war das grösste Kompliment, das mir je eine Leserin für mein Schreiben gemacht hat.

Will ich mir gedanklich ein schönes Bild des Menschen vorstellen, dann denke ich an sie und sehe ich seither die kleine Anna, abseits von den anderen stehend, auf dem Schulhof, das zerlesene Buch in den Händen haltend. Danke, kleine Anna, wo immer du auch bist. Sei lieb umarmt.

Geheim

Der geschätzte Leser, die geschätzte Leserin, mag sich jetzt vielleicht fragen, was denn diese Gedankensprünge eigentlich sollen. Ich wurde angefragt, etwas über die Liebe zu Büchern zu schreiben und habe nach kurzem Zögern zugesagt. Ich stellte mir die Sache zu leicht vor und gebe nun gerne zu, am Thema vorbeigeschrieben und also versagt zu haben.

Denn wie jede Liebe ist auch die Bibliophilie, die Liebe zum Buch (oder zum Menschen, zur Schöpfung), letzten Endes unerklärlich und geheim. Wer aber nicht liebt, was, wen und wie auch immer, der wäre besser nicht geboren worden.

Clemens Stephan Marti

Der Autor arbeitet in der Bibliothek des Kapuzinerklosters Wesemlin, Luzern.