Ein Quartier namens BaBeL

Reise in Luzerns Untergrund

Mit «BaBeL» ist nicht die Stadt des Turmbaus und der Sprachverwirrung gemeint. Es ist die Abkürzung des Quartiers Basel-/Bernstrasse Luzern, in dem Menschen aus 70 Ländern mit einer entsprechenden Sprachvielfalt leben. Das Quartier wird auch «Untergrund» genannt. Der Quartierbewohner Urs Häner, Theologe und Druckereiarbeiter, lädt uns zu einem ungewöhnlichen UntergRundgang ein.

Kommen Sie mit mir auf einen etwas anderen Quartierspaziergang. Schon der Name meines Quartiers verheisst Geheimnisvolles: Untergrund. Ich werde des Öftern gefragt, ob Stiefel anziehen müsse, wer mit uns auf einen «UntergRundgang» (das sind sozialgeschichtliche Führungen) kommt.

Das ist aber nicht der Fall, die Geschichten und möglichen Entdeckungen liegen quasi auf offener Strasse. Die Bezeichnung meint den «unteren Grund», das reussabwärtsliegende Gebiet ausserhalb der mittelalterlichen Stadt Luzern, so wie es übrigens auch den Obergrund gibt.

Bei den Hintersassen

Machen wir uns also auf den Weg. Startpunkt ist der Kasernenplatz, wo früher das so genannte Baslertor stand. Hier verliess man damals die linksufrige Kernstadt Richtung Norden und betrat zunächst die St. Jakobsvorstadt, das Gebiet der Zugezogenen, der Hintersassen, der kleinen Leute ohne Bürgerrechte – interessanterweise ein Kennzeichen dieses Stadtgebiets bis heute. Denn über die Hälfte der BewohnerInnen meines Quartiers besitzt keinen roten Pass.

Das Gebiet um den Kasernenplatz ist heute ein sehr unwirtlicher Ort, da sich hier der gesamte Autobahnverkehr in die Stadt ergiesst. Auch auf der Baselstrasse fahren tagtäglich Tausende von Autos in und durch unser Quartier. Wenn bisweilen schlecht über unser Quartier geredet wird, weil hier «schwierige und schlimme Leute» seien, halte ich stets dagegen, dass der schlimmste Faktor im Untergrund der ewige Strassenlärm sei. Es ist fast ein Hohn, dass der Platz vor dem Baslertor anno dazumal «Kurzweilplatz» hiess. Es wird noch viel Engagement nötig sein, dass in unserem Quartier der Verkehr eingedämmt wird und sich die Orte fürs Verweilen vermehren lassen.

«Colonialwaren-Laden»

Doch verlassen wir den Kasernenplatz und biegen ein in die Baselstrasse, die Hauptachse des Quartiers. Sich hinsetzen kann man da fast nirgendwo. Aber auch im Vorbeigehen lassen sich spannende Ecken entdecken. In einer Toreinfahrt ist beispielweise unter dem Dach ein längst verrostetes Schild montiert, auf dem mit Mühe «Lagerhaus» und etwas wie «Hochstr…» abzulesen ist.

An diesem Ort befand sich bis vor 40 Jahren die Rösterei des Kaffeeunternehmens Hochstrasser, das auf der gegenüberliegenden Strassenseite (die Häuser stehen alle leider nicht mehr) das eigene Verkaufsgeschäft führte: einen «Colonialwaren-Laden». Hier waren also all die kostbaren Köstlichkeiten aus den Kolonien käuflich erwerbbar: nicht nur Kaffee, auch Tee, Pfeffer, Zimt, Curry usw.; für teures Geld übrigens. Ein Pfund Kaffee hätte damals einen Hilfsarbeiter einen halben Monatslohn gekostet, ein unerschwinglicher Traum also.

Heute sind diese Produkte aus aller Herren Ländern wegen der viel zu tiefen Transportkosten und wohl auch wegen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse spottbillig. Jedenfalls ist «Hochstrasser Colonialwaren» für mich wie ein Vorbote der internationalen Läden in unserem Quartier: Allein an der Basel- und Bernstrasse befinden sich 14 ethnische Läden aus vier Kontinenten! Die Reise ins Quartier wird zu einer kleinen Weltreise …

Eine letzte Bemerkung noch zum Kaffee Hochstrasser: Bis vor einigen Jahren prangte an der Hausfassade eine Werbung – notabene mit dem «Negerli», womit Hochstrasser seine Produkte feil- bot. Diese Sorte heisst heute noch «Negerli ganz fein»! (Anm. der Redaktion: Wenn man bei der Suchmaschine Google im Internet den Begriff «Negerli» eingibt, kommt als Erster der 3450 Links «Negerli 1 kg».)

Das erinnert an das seltsam klischierte Bild, das Europa sich von Afrika und Übersee lange Zeit machte. Auch in den Kirchen muss man sich dieser Vergangenheit stellen, verband sich doch das Engagement für «die Missionen» an fast jedem Ort mit der Figur des «Nick-Negerlis», das untertänig dankend nickte, wenn man einen Batzen einwarf.

Pilgerherberge

Auch die nächste Station auf unserem Weg ins Quartier hat mit Kirchengeschichte zu tun: Ein paar Schritte weiter, wo sich heute ein grosses Parkhaus und daneben ein Parkplatz befinden, stand im Hochmittelalter das Jakobsspital: eine Herberge für Pilgerinnen und Pilger auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela in Spanien.

Das Pilgerwesen war offenbar so bedeutsam und das Jakobsspital so stark frequentiert, dass der Name St. Jakob auf die gesamte Vorstadt überging. Man weiss, dass in einem Spitzenjahr um 1700 über tausend Pilger via Luzern nach Südwesten pilgerten – das scheint auf den ersten Blick nicht viel zu sein. Aber wenn man die damalige Grösse der Stadt auf heute hochrechnet, käme man auf etwa 16’000 PilgerInnen in einem Jahr, was doch eine beachtliche Zahl ist und als «grossartiges Werk der Barmherzigkeit» gelten darf.

Doch wir müssen weiter, sonst bleiben wir im vorderen, mittelalterlichen Teil des Quartiers stecken. Die Stadt ist gegen Ende des 19. Jahrhunderts förmlich explodiert (wie übrigens fast alle Städte Westeuropas zu jener Zeit). So wurde aus der St. Jakobsvorstadt das bevölkerungsreichste, dichtest bebaute Untergrundquartier.

«A-Quartier»

Eben bin ich noch Frau E. begegnet, einer langjährigen, älteren Bewohnerin des Quartiers. Sie ist stets mit ihrem Einkaufswägeli unterwegs. Seit einiger Zeit muss sie ausserdem ihren Stock dabei haben. Für einen kleinen Schwatz ist sie immer zu haben. Denn sie wohnt wie viele allein in einem der zahlreichen Blöcke hier.

Eine der Zuschreibungen für das Untergrundquartier lautet denn auch «A-Quartier», was nicht nur die hohe Zahl der Alleinstehen- den meint, sondern selbstredend auch die überdurchschnittlich vertretenen AusländerInnen, ausserdem die Arbeitslosen, Armen und Alkis, die es ebenfalls vermehrt hierher verschlägt.

Altes Sentispital

Inzwischen sind wir beim Alten Sentispital angelangt. Im Mittelalter befand sich hier das Siechenhaus. Später führte die Bürgergemeinde eine «Armen- und Korrektionsanstalt». Der mittlere Teil des Ensembles ist bis heute eine Kirche mit dem Heiligen Jakobus als Patron. Jeden Tag sehe ich Menschen hineingehen für einen Moment der Stille und des Gebetes. Speziell finde ich die kleinen Luken, die vom Kirchenschiff hinüber in die Krankenzimmer führten, sodass die abgesonderten Siechenkranken sich als Teil der Gottesdienstgemeinschaft fühlen konnten.

Im rechten Flügel des Gebäudes ist seit fast 70 Jahren die Colonia Libera Italiana beheimatet. Eben kommt Kollege G. heraus, ein Italiano wie er im Buche steht, inzwischen mit schlohweissem Haar, aber noch immer Presidente der CLI Lucerna. Wenn G. von seinen Zeiten als junger «Gastarbeiter» in unserem Land erzählt, kommt er in Fahrt, ebenso wenn er von den Demütigungen in der «Schwarzenbach-Zeit» berichtet. Inzwischen gehören die Italiani aber zur schweizerischen Gesellschaft. Die feindlichen Reflexe richten sich gegen andere Nationalitäten. Ich finde es daher speziell schön, dass im Lokal der Colonia heute auch Nordafrikaner aus- und eingehen.

Aus 70 Ländern

Und weiter gehts. Dort, wo heute die Eisenbahnbrücke die Baselstrasse quert, stand bis 1833 das Sentitor. Hier verliess man also definitiv das Stadtgebiet. Wir tauchen heutzutage ein in die mittlere Baselstrasse, das Kerngebiet des Quartiers. Und hier findet sich nun die ganze internationale Vielfalt der Gesichter und Läden: Menschen aus über 70 Ländern wohnen hier auf engem Raum zusammen. Das gute Dutzend Läden erwähnte ich bereits.

Wenn ich entscheiden müsste, das gewisse Etwas meines Quartiers kurz und knapp zu beschreiben, ich würde diese Ladenvielfalt nennen. Gehen wir zum Beispiel in den mexikanischen Laden «El Sombrero Latino» von D.C.: Wir machen mit drei, vier Schritten einen Sprung über den Teich. Mexikanische und andere lateinamerikanische Lebensmittel finden sich hier. An der Wand hängt ein Bild von Frida Kahlo.

In der Ecke des Ladens entdecke ich eine eigentümliche Figur. Die Ladenfrau erklärt mir, das sei eine Catrina. Es handelt sich um eine edel gewandete Skelett-Dame. Denn der Tod ist im Unterschied zum deutschen Sprachraum, wo er als unerbittlicher Sensenmann bekannt ist, im spanischsprachigen Raum weiblich! Und der Totengedenktag, wird mir berichtet, sei in Mexiko der wichtigste Feiertag. Da ziehe die ganze Grossfamilie auf den Friedhof und begehe ein festliches Gemeinschaftsmahl der Lebenden und Toten. Inzwischen sind unsere Füsse ein wenig müde geworden. Wir gehen in eine der zahlreichen Quartierbeizen, um etwas zu trinken.

Urs Häner

Weitere Infos: www.babelquartier.ch