Franz von Assisi – durch Krisenzeiten wachsen

Der Lebensbaum von Franziskus weist 44 Jahrringe auf. Ein allzu kurzes Leben? Erfüllung ist oft nicht an der Dauer zu messen. Was spiegeln uns die Jahrringe des Poverello? Gibt es Krisen? Welcher Art waren diese und wie hat der Heilige sie gemeistert?

Franz ist 16-jährig, als Assisi den deutschen Grafen davonjagt, seine Burg zerstört und eine demokratische Gemeindeordnung errichtet. Die Folge des Befreiungsschlags ist ein Bürgerkrieg, der den Adel ins Exil treibt und die Stadt zwölf Jahre lang spaltet.

Für den angehenden Kaufmann bedeutet diese politische Krise Aufbruch in eine neue Freiheit. Er ist eben in die wirtschaftlich führende Zunft der Stadt aufgenommen worden. Er wird bald einmal zum Festkönig der Jugend gewählt und hat beste Zukunftsaussichten. Auch moderne Krisen wie eine globale Pandemie kennen Verlierer und Gewinner.

Zerbrochene Träume
Franz zeigt mit 18 unbändigen Ehrgeiz. Es reicht ihm nicht, dass das Familienunternehmen in der Stadt fünf Häuser besitzt und seine Zunft nun auch die Politik bestimmt. Handelsreisen auf die Textilmärkte Frankreichs beflügeln die Träume des jungen Modeexperten. Er will Ritter werden und in den Adelsstand aufsteigen.

Mit kühnen Hoffnungen stürzt er sich in Assisis Kampf gegen die rivalisierende Stadt Perugia. Die Schlacht am Tiber wird zum Debakel. Franz sieht dem Tod ins Auge, verbringt ein Jahr in Kriegsgefangenschaft und erkrankt nach seiner Rückkehr schwer. Als er sich wieder aufrappelt, hat sein Kaufmannsleben den Geschmack verloren

Flucht vor sich selbst
Berichte seiner Gefährten deuten auf eine Depression und totalen Sinnverlust hin. Assisi hätte sich dem jungen Kaufmann und Eventmanager farblos gezeigt. Franz flieht zunächst aus der schockierenden Situation und will sich in ein neues militärisches Abenteuer stürzen.

Bereits nach einem Tagesritt verschenkt er Pferd, Rüstung und Waffen und kehrt zu Fuss nach Assisi zurück. Eine unruhige Nacht in Spoleto lässt ihn erkennen, dass er sich selbst davonläuft – und dass er im eigenen Alltag auf die Suche gehen muss.

Posttraumatisch wachsen
«Schreckliche Erlebnisse wie Krieg oder Krankheit können Menschen innerlich zerstören. Viele jedoch entwickeln eine neue Stärke. Posttraumatisches Wachstum nennen Forscher es, wenn nach Schicksalsschlägen eine neue Perspektive erwacht», schrieb Michaela Haas 2015 in der ZEIT.

Franziskus findet schrittweise zu neuer Kraft, Freiheit und Lebensfreude. Während sein Kaufmannsleben äusserlich normal weitergeht, führt ihn eine innere Suchbewegung in Neuland.

Entscheidend werden drei Schlüsselerfahrungen: Erstens, Franz geht öfter aus dem Alltagstreiben weg und vor die Stadt hinaus. Er schaut von aussen auf seine Lebensrealität. Auch heute helfen «Timeouts» und Rückzugszeiten zu neuer Orientierung.

Am Fuss des Stadthügels liegt das verlassene Priorat San Masseo. Die Stille der Krypta lässt Franz zu sich selber kommen, seine unverdauten Erfahrungen wahrnehmen und seine Sehnsucht in Worte fassen. Von Familie und Freunden unverstanden, wendet er sich – erstmalig – ganz persönlich an Gott: «Du, lichtvoll über allem, erleuchte das Dunkle in meinem Herzen…». Stille, zu sich selber finden und eine gute Selbstsorge ermöglichen erste Schritte aus der Sackgasse.

Die zweite Schlüsselerfahrung wird die Begegnung mit Aussätzigen: «Menschen im Elend weckten mein Herz», wird Franz später dazu schreiben. Neue Offenheit für das Du. Nicht ausgewählte Freunde wie an seinen Festen in Assisi, sondern der Nächste, der den eigenen Weg kreuzt, führt ihn weiter aus der Sackgasse.

Mystische Erfahrungen
Der dritte Schritt geschieht in San Damiano. Vor seiner Krise religiös gleichgültig, tastet der Suchende mit den dunklen Schatten aus Krieg, Kerker und Krankheit nach dem fernen «Licht der Welt». In einer zerfallenden Landkirche vor den Stadtmauern findet er eine Ikone, die ihn zutiefst bewegt:

Der scheinbar ferne Gott, der über der Welt thront, zeigt sich ihm menschlich und arm, halbnackt am Kreuz und zugleich auferstanden, mit offenen Augen, offenem Ohr und weit offenen Armen. Gottessohn, der sich selber den Gefahren der Welt aussetzte, und der auferstanden menschliche Wege mitgeht – glückliche wie schmerzliche.

Brüche im Leben
Franz kann sein bisheriges Leben nicht weiterführen. Er steigt aus. Sein Vater will den Junior mit Gewalt auf Kurs zurückbringen, sperrt ihn ein. Als er entwischt, zitiert er ihn vor Gericht. Franz schlüpft im bischöflichen Tribunal wie ein Schmetterling aus dem Kokon, gibt dem Vater die Kleider zurück und verlässt Assisi enterbt: nackt und frei. Ohne den Mut zum Bruch mit Familie, Zunft und Stadt wäre der Schmetterling in seinem engen Kokon zugrunde gegangen.

Es dauert daraufhin weitere zwei Jahre, bis der 26-Jährige seine neue Lebensaufgabe findet. Klarheit entsteht schrittweise. Franz pflegt zunächst Aussätzige, baut dann die zerfallende Landkirche San Damiano wieder auf, betrachtet die Ikone des armen Christus und erhofft sich von ihm einen gemeinsamen Weg.

Friedensarbeit
Im Frühjahr 1208 eröffnet sich ihm dieser Weg, an einem Apostelfest beim Anhören des Evangeliums. Wie Jesus seine Freunde in Galiläa durch die Dörfer und Städte sandte, um Menschenliebe zu wecken und Frieden zu bringen, so soll Franz es in der eigenen Zeit und Welt tun. Von tiefstem Glück über diesen Auftrag erfüllt, setzt er ihn sogleich um. Er kleidet sich in eine schlichte Kutte und wird Friedensarbeiter.

Bald schliessen sich ihm Gefährten an. «Niemand zeigte mir, was ich tun soll», schreibt er später darüber, «doch der Höchste selbst hat mir offenbart, dass wir nach dem Evangelium leben sollen.»

Die eigene Sendung weitet sich auf Gefährten aus. Sie gründen eine fraternitas, eine Bruderschaft, die verbindet, was die damalige Gesellschaft und Kirche schmerzlich trennt: Städter und Landleute, Adelige und Bürger, Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Priester und Laien.

Gemeinsam stellen sie sich den Konflikten der Zeit: familiären Krisen in den Häusern, in denen sie arbeiten; sozialem Ausgrenzen ganzer Menschengruppen; politischen Kämpfen; drohenden Bürgerkriegen.

Franz wagt es sogar, unter Lebensgefahr in den Fünften Kreuzzug einzugreifen. Er entdeckt den spirituellen Reichtum der islamischen Welt. In all diesen Erfahrungen wächst er innerlich, indem er sich äusseren und fremden Krisen stellt.

Krankheit
Die letzten Lebensjahre warten wieder mit eigenen Krisen auf: Die von ihm gegründete Bruderschaft wächst in die Tausende und durchläuft eine Wachstumskrise. Franz ist überfordert und tritt die Leitung ab. So schmerzlich dieser Rückzug ist, das Loslassen führt in eine neue Freiheit. Ähnliches erleben heute jene, die den Pensionierungsschock verarbeiten und mit freien Händen in eine neue Lebensphase aufbrechen.

Aus Ägypten hat Franz Malaria sowie eine Augen- und Milzkrankheit mitgebracht. Sie lassen ihn im Frühjahr 1225 durch körperlich und seelisch dunkelste Wochen gehen. Brüder, Klaras Schwestern und das Ringen mit Gott führen den Leidenden in neues Licht. Die Frucht davon ist der berühmte Sonnengesang. Seine Menschenstrophe lautet:

«Sei gepriesen, mein Gott, für jene, die in der Kraft deiner Liebe verzeihen und die Krankheit und seelischen Stress aushalten. Glücklich, deren innerer Friede Strapazen durchsteht. Denn du, Höchster, führst sie ins Glück.»

Niklaus Kuster