Franziskus und die Freude

Ein Abend in Assisi: Junge Leute singen und tanzen auf der Piazza. Ihre Reigen ziehen bald Kreise. Jugendliche aus Frankreich, eine gutgenährte Amerikanerin, eine Gruppe zierlicher Japanerinnen, Buben aus Napoli und zwei deutsche Opas lassen sich bewegen, reichen sich die Hand und drehen sich mit. Eine Szene von vielen: typisch für diese Stadt.

Hoch über den alten Ziegeldächern dann ein stilles Miteinander: Verliebte spielen am Fuss der Burg im Zauber junger Liebe. Fliegende Leuchtkäfer funkeln zwischen den Halmen und über dem Mohn. Die beiden grüssen den «fratello» wie im Traum und versinken gleich wieder in die wundervolle Welt um sie.

Eine letzte Szene: Claudia schliesst nach Mitternacht ihre Gartenbar. Nur wenige Gäste haben sich heute Abend in die engen Gassen der Unterstadt verirrt. Dennoch reinigt sie nun singend die taufeuchten Tische, leert Aschenbecher und räumt den Abfall weg: tiefe Zufriedenheit, die sich nicht an Einkünften misst.

Abend in Assisi: Noch heute ist es Francescos Stadt. Der Poverello ist in einer umbrischen Welt geboren, die zu Recht «paradiesisch» genannt wird. Kennen Sie eine andere Gegend, aus der fast jede Naturaufnahme in ein Bilderbuch gelangen könnte? Kennen Sie eine Stadt, in der sich so viele kleine Läden mit einheimischem Handwerk, Naturprodukten und Kunst aller Art auf engerem Raum aneinanderreihen? Eine Stadt, in der Menschen so offen werden füreinander? Auf deren Gassen so viel gesungen wird _ in allen Sprachen? Und wo «Fremde» verschiedenster Länder und Kulturen sich so schnell finden?

Lebensfreude

Franz ist der Sohn einer überaus charmanten Stadt. Freude am Schönen, an der Sonne, am Leben und am Feiern, Fröhlichkeit und ein heiteres Herz werden ihm schon vom Land geschenkt, in dem sein Weg beginnt. Und doch hat er seine Mitbürger und Zunftgenossen bald überragt. Sie haben ihn gewiss nicht nur deshalb zum Festkönig der Jungen gewählt, weil er die Gelage gleich selbst bezahlte, statt wie üblich am Ende einen «Untertanen» zum Begleichender ganzen Zeche zu verknurren. Schalk, Charme und Phantasie vereinen sich im jungen Kaufmann mit Grosszügigkeit und Festfreude. Pietro di Bernardones Sohn eignete sich besser als alle, um nächtlichen Touren durch Assisis Gassen und jugendlichen Festen Geist und Farbe zu geben.

Der junge Franz fällt jedoch nicht nur in Festen auf: Auch beruflich zeigt er sich bald ebenso begabt wie einsatzfreudig. Von weiten Ritten auf die Märkte des Spoleto-Tals kehrt er mit prallem Geldbeutel zurück. Im Geschäft ist er Kaufmann wie sein Vater. Ein Bettler, dessen kurzes Eintreten Kundinnen abhalten könnte, fliegt unverzüglich raus. Franz kennt und liebt die Stoffe, ihre Farben und ihre Kunst. Anders als Pietro hält er sich allerdings weder an Moden noch an Ordnungen: Spielerisch werden Prachts- und Alltagsstoffe zu einem kontrastreichen Kleid zusammengenäht. Das Französische, das sein Vater ihm aus geschäftlichen Überlegungen beibringen lässt, wird ihm zur Sprache der Poesie und lehrt ihn wie ein Troubadour zu singen. Und Geld soll nicht einfach angehäuft, sondern freigebig eingesetzt werden, um ihm selbst und seinen Freunden das Leben zum Fest werden lassen.

Fröhlichkeit im dunklen Keller

Lebensfreude hindert den jungen Mann nicht, ehrgeizige Karriereträume zu hegen und sie auch zielsicher umzusetzen. Mit 16 ist Franz, eben erst volljährig, beim Sturm auf die Rocca (Burg oberhalb Assisi) dabei. Er erlebt die Befreiung der jungen Stadt von Fremdherrschaft und aristokratischer Kontrolle. Als Hoffnungsträger einer Familie der führenden Kaufmannszunft kann er sich eine bedeutsame Zukunft in der Republik erhoffen. Pietros Sohn übertrifft die politischen und wirtschaftlichen Erwartungen der Eltern in seinem Ehrgeiz.

Er träumt davon, die soziale Bedeutung der Familie mit dem kulturellen Glanz des Adels zu krönen. Eine Schlacht gegen die Rivalenstadt endet allerdings in einem Albtraum. Statt dem erfolgsverwöhnten Sohn durch grosse Taten den Ritterschlag einzubringen, wirft das Debakel von Collestrada ihn mit einer Anzahl Genossen in einen dunklen Kerker Perugias. Hinter ihm Dutzende toter Freunde, ein grauenhaftes Schlachtfeld und Massengräber. Um sie: Finsternis, Mauern, Demütigungen durch ihre Feinde, das körperliche Elend und der psychische Stress Kriegsgefangener. Auch da lässt sich seine Freude nicht unterkriegen. Während andere in Ängste versanken, habe Franz Scherze gemacht und von einer grossen Zukunft geträumt.

Unruhe in der Seele

Die nackte Angst sollte aber auch Franz noch einholen und tiefer ins Dunkel stürzen als seine Freunde. Kaum hat sein Vater ihn nach einem Jahr Kerker gegen teures Geld ausgelöst, wird der Sohn krank. Sein Zustand verschlimmert sich zusehends. Monatelang bangt die Familie um Francescos Leben, bis er sich endlich auffängt. Nur langsam kehren seine Kräfte zurück. Mühsam muss er an einem Stock neu gehen lernen.

Schliesslich kann der Sunnyboy sein gewohntes Leben wieder aufnehmen. Das Geschäft, der regelmässige Ritt auf umliegende Märkte, elegante Kleidung und abends ausgelassene Feste verleihen seinen Tagen wieder Glanz. Und doch: etwas ist nicht mehr wie früher! Eine Unruhe bleibt in seiner Seele und etwas vom erfahrenen Dunkel lässt sich durch nichts verdrängen. Franz muss sich seinen existentiellen Fragen stellen. Was sollen Erfolg, Reichtum und elegante Kleider, wenn du leer bleibst im Innersten? Wenn in allen Farben lange Schatten schmerzlicher Erfahrungen liegen? Wenn deine Seele in aller Geselligkeit keine Antwort auf einsame Fragen findet? Das Leben, das ihm so lieb war, erscheint dem jungen Kaufmann zunehmend bitter.

«Bitteres wird süss»

Weder sein Vater noch Zunftkollegen und Festfreunde scheinen seine Not zu spüren. Er muss allein suchen. Zwei Wege lassen ihn dabei neue und ungewohnte Erfahrungen machen. Ein Weg führt hinab in die Unterstadt. Sie hat Franz bisher kaum interessiert. Die Gassen der Arbeiterfamilien, der Taglöhner und der Bettlerinnen sind unattraktiv. Gefährten erzählen, der junge Kaufmann habe sich immer öfter da unten herumgetrieben. Eines Abends hätte er gar ein Fest für die Bettler organisiert: im eigenen Elternhaus und bei Pietros Abwesenheit. Ein reicher junger Mann, der sich unter Bettlern wohler fühlt als in seiner eigenen Zunft? Ein erfolgsverwöhnter Kaufmann, der mit vollen Hände innerlich bettelt und seine verlorene Lebensfreude neu sucht!

Zur selben Zeit, da er mit Bettlern ganz unten in der Stadt ungeahnte Lichterfahrungen macht, steigt Franz auch in die Wälder über Assisi. Er hat hier eine Höhle entdeckt, in der er allein sein kann. Ein stiller Ort, der «Carceri» heisst und der in dunklem Fels auch an den Kerker Perugias erinnert. Hier stellt er sich seinen Fragen, sucht seine neuen Erfahrungen zu verstehen und tastet nach einem Du, das er «lichtvoll über allem» ahnt.

In diesen Steinen hat Franz offenbar erlebt, dass er schweigend erwartet wird, wortlos verstanden und unsichtbar berührt: von einem Du, das er nicht kennt und das ihn sucht. Ein Freund erzählt, dass der Schweigende wiederholt mit leuchtendem Gesicht in seinen Alltag zurückgekehrt ist. Namenlose Glückserfahrungen über- und unterhalb der Stadt lassen Franziskus Alltag in Assisis Zentrum immer zerrissener werden.

Zwei Umarmungen bringen schliesslich im Frühjahr 1206 nach vier Jahren Krise die entscheidende Wende: die Begegnung mit einem Aussätzigen und die mystische Begegnung mit Christus in San Damiano. Dass der «Höchste, Lichtvolle» sich arm macht, Mensch und Bruder der Kleinen wird und ihn, Franz, in einer Ruine erwartet – es überwältigt ihn ebenso wie die tiefe Glückserfahrung in der Umarmung eines Aussätzigen, der in menschlicher Zuwendung wieder Mensch wird. Wie Vater Pietro seinen Sohn in der Folge für verrückt erklärt und enterbt, verlässt Franz seine Stadt nackt und singend: Er wird «Troubadour eines grossen Herrn», dessen Liebe er fortan verkünden will.

Wanderbruder und Bettler

Das Leben, das Francesco als Wanderbruder mit leeren Händen erwartet, ist von sozialer Verachtung, Entbehrungen und harter Arbeit geprägt. Dennoch gewinnt er die Menschen ganzer Städte und Gegenden als singender Bettler.

Gefährten schliessen sich an und folgen seiner Lebenskunst. Keine religiöse Regeln, keine moralischen Gebote, kein kirchlicher Auftrag bestimmt das Leben und Tun dieser Brüder, sondern die Freude an einem Schatz, für den sich jeder Besitz und jede Sicherheit herzugeben lohnt.

Franz beschreibt seinen Schatz in einem Minnelied, das über alles geliebte «Frauen» preist: eine Armut, die frei macht; eine Schlichtheit, die alle Türen öffnet: eine Liebe, die auch die Kleinsten findet und einen Frieden, der auch in Konflikten unerschütterlich bleibt. Je tiefer Franz die Liebe Gottes erfasst, desto herzlicher wird er zum Bruder aller Menschen. Er tut es auf den Fussspuren Jesu und in der Art der Apostel, die alles verliessen und hundertfach erhielten: «Mütter, Schwestern, Brüder, Äcker und Häuser». Die franziskanische Bewegung atmet die Freude von Menschen, die mit leeren Händen reich beschenkt sind. Sie singt von der Zuwendung Gottes, die sich gerade Menschen ganz unten und am Rand der Gesellschaft zeigt.

«Vollkommene Freude»

Der Troubadour Gottes wird von Krisen nicht verschont. Die Entwicklung seines Ordens, die Erfahrung seiner Grenzen, schmerzliche Krankheiten und zunehmende Blindheit lassen ihn ab 1220 erneut durch dunkle Zeiten gehen.

Der Sonnengesang, sein schönstes Lied, das auch in die Weltliteratur einging, entsteht aus einer wochenlangen, tiefsten Finsternis. Es befreit und vertieft jene Freude, die das arme Leben des Poverello trägt: die Freude an einem Gott, der die Welt voller Liebe geschaffen hat und den alle Geschöpfe geschwisterlich preisen. Auf seine Zuwendung antwortet der Mensch am schönsten, wenn er sich ins Lied der Geschöpfe einfügt und wenn er im Verzeihen und in seinen Krisen die wahre Tiefe seiner Liebe zeigt.

Gegen Ende seines Lebens legt Franz seinem Gefährten Leo dar, wer zur «vollkommen Freude» gelangt: Wer so sehr aus der tiefsten Liebe handelt, dass er auch in der härtesten Abweisung noch seinem Bruder friedfertig begegnen kann – und Bruder jedes Menschen bleibt.

Nicht umsonst sieht der Sonnengesang jene Menschen die schönste Stimme ins Schöpfungslied einbringen, welche «verzeihen, weil Gottes Liebe sie trägt». Sie werden in vollendeter Freude tanzen, wenn Schwester Tod sie einmal in Gottes ewige Welt führt – für die unsere Welt erst das Vorspiel ist.

Niklaus Kuster
Der 39-jährige Kapuziner hat in Rom franziskanische Spiritualität studiert und mit dem Doktorat abgeschlossen. Er hat Lehraufträgean den Hochschulen Luzern und Münster.