Interview zu Corona von Ägypten

Liebe Corona, junge Frau aus alter Zeit

Heute, 14. Mai, ist dein Fest! Doch hierzulande warst du am Anfang dieses Jahres fast so unbekannt wie das Corona-Virus. Wie kommt es, dass sich heute plötzlich Menschen der Postmoderne für dich interessieren, eine vergessene Christin der Frühen Kirche?

Nun ja, zunächst verschafft mir die ebenso zufällige wie zwiespältige Namensgleichheit mit dem Virus Interesse. Der Erreger steht allerdings für Gefährdung und tödliches Risiko, als Heilige stehe ich für innere Kraft und Leben ohne Ende.

Was lässt sich über Dein Leben sagen?

Historisch betrachtet wenig! Es gibt drei Legenden, die in unterschiedlichen Ländern und in zwei verschiedenen Jahrhunderten verortet sind. Ich mag die afrikanische Version Legenden sind seit Alters her „lesenswerte Geschichten“. Weniger an Fakten interessiert, wollen sie primär sinnstiftend sein. In meiner Legende leuchten drei Werte auf, die nach Paulus als einzige alles überdauern (1 Kor 13): ein Glaube, der aufrecht durch Krisen führt, ihre Hoffnung, die durch alles trägt, und eine Liebe, die stärker ist als Hass – und stärker als der Tod!

Weshalb hat sich deine Verehrung als Märtyrerin aus Ägypten bis ins mittelalterliche Bayern und Österreich, nach Aachen und Strassburg ausgebreitet? In welchen Anliegen fanden Besorgte bei dir Trost und Hoffnung?

Als Schwester aus alter Zeit weckte ich zunächst Interesse, weil es um die Lebensgeschichte einer jungen Frau geht. Dass ich zudem als Ehefrau in Erinnerung bleibe, lässt zusätzlich aufhorchen, da Verheiratete im katholischen Heiligenkalender ja selten sind. Ich bin überzeugt, dass das meine Verehrung auch in Europa förderte: Viele Menschen konnten eheliche und familiäre Sorgen leichter vor eine Heilige legen, die nicht in der Wüste oder im Kloster gelebt hat, sondern das städtische und partnerschaftliche Leben kennt.

Weshalb wird dein Name nun weltweit in vielen Gebeten genannt und warum horchen bei deiner Nennung auch Menschen auf, die sonst wenig auf Heilige geben?

In Mega-Krisen wie der aktuellen, in der sich die menschlichen Mittel allzu begrenzt erweisen, schauen mehr Menschen als sonst zum Himmel. Die Erfahrung, dass wir gefährdet sind und unser Leben fragil ist, weckt von Neuem das Bewusstsein und die Hoffnung, dass Heilsames, Heilung und Heil nicht allein von unseren Möglichkeiten abhängen.

 Was hast du, heilige Corona, in Ausnahmesituationen wie der Corona-Krise zu sagen?

Bereits meine klassischen Attribute sprechen aktuell und mit neuer Botschaft in die Gegenwart: Münze und Schatztruhe wurden meinem Bild in Europa deswegen hinzugefügt, weil Corona auch der Name einer Goldwährung war. Selbst Geldfälscher und Glücksspieler haben mich deswegen in früheren Zeiten angerufen. Die grosse Mehrheit einer breiten Bevölkerung jedoch drehte bis vor wenigen Jahrzehnten die Münzen in der Hand, weil sie sich unnötige Ausgaben nicht leisten konnte. Viele haben in meinen Kapellen in alltäglichen Geldsorgen gebetet. Heute können meine Attribute deutlich machen, wie fragil unsere Wirtschaft als ganze ist und dass sich Ökonomen und Politiker grundsätzliche Fragen stellen müssen: über die Auswege aus Verschuldungskrise und Rezession hinaus auch mit Blick auf die Zukunft des weltweiten Wirtschafts- und Finanzsystems.

Die Palmen auf meinen Darstellungen, lebensspendend und zur Folter missbraucht, stellen euch die Frage, wie wir mit der Mitwelt – Pflanzen und Tieren auf unserer Erde – umgehen. Muss es zum Stillstand weiter Wirtschaftszweige kommen, bis Luft und Wasser sauber werden und bis Fische und Wildtiere sich wieder in menschliche Lebensfelder wagen? Was verhilft der ganzen Schöpfung zu einem dauerhaften Auf- und Durchatmen?

Gibt es eine innere Verbindung zwischen deinem Geschick, der radikalen Verunsicherung vieler Menschen, der globalen Gefährdung ganzer Bevölkerungsgruppen und der Absturzgefahr eben noch blühender Volkswirtschaften?

Weltweite Krisen sind nicht neu. Auch ich lebte in einer Zeit und einem Weltreich, dessen Grenzen wankten, dessen Wirtschaft taumelte und in dem eine Finanzkrise, wachsende Arbeitslosigkeit, Seuchen und soziale Unruhen beängstigende Ausmasse annahmen. Die Antwort der kaiserlichen Politik war hilflos, kostete unzählige Opfer und mündete u.a. in einer neuen Religionspolitik. Die Menschheit braucht Visionen. Kaiser Konstantin entdeckte damals in der verfolgten christlichen Religion eine visionäre Kraft. Heute ist es das Zusammenspiel der Religionen, das neue Visionen wie die der „universalen Geschwisterlichkeit“ weckt.

 Und wozu könntest du uns als Schwester aus früherer Zeit, die schon als Teenager starb, in der aktuellen Situation ermutigen?

Victor, der Gefährte auf meinen Darstellungen unterstreicht die Bedeutung, die Solidarität in unserem Leben hat: von Mensch zu Mensch ebenso wie in der grösseren Verbundenheit der Gesellschaft, der Völker untereinander und der Menschheitsfamilie. Was mir im Zwischenmenschlichen gelungen ist und was die Frühe Kirche mit ihrer Vision einer Familie ohne Grenzen prägte, bleibt auch heute eine persönliche und gemeinsame Herausforderung: eine solidarischere Weg- und Weltgemeinschaft! Was Ihr in der aktuellen Krise hoffnungsvoll erlebt, soll euch im Neuaufbruch inspirieren: von der Idee der Konkurrenz und des rivalisierenden Wettlaufs zu einer Solidarität zu finden, die keine Grenzen kennt, weder die Grenzen von Nationen und Rassen, noch die von sozialen Klassen und Generationen. Nicht nur das Virus verbreitet sich grenzenlos, auch Solidarität kann und will es tun. Wir alle leben auf derselben Erde und haben „irdisch“ ein gemeinsames Ziel, das den Einsatz und die Fähigkeiten aller Menschen erfordert: eine gerechte, lebensfreundliche und friedliche Welt, die niemanden ausschliesst.

 Adaptiert aus dem Nachwort eines Essays zur Heiligen:

 


Niklaus Kuster

Niklaus Kuster, geb. 1962, ist Kapuziner der Schweizer Ordensprovinz. Er studierte Geschichte und Theologie und promovierte in Spiritualität. Seit 20 Jahren lehrt er Kirchengeschichte und Spiritualität an der Universität Luzern und den Ordenshochschulen Münster und Madrid, ist in der franziskanischen Forschung tätig, begleitet Kurse, Reisen und Intensivzeiten, ist Buchautor und Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften.