Die Welt als franziskanischer Kraftort

Auch für Franziskus und Klara gibt es spezielle Orte. Fünf davon seien hier  näher beleuchtet: Orte, die Bruder Niklaus Kuster mit Gruppen unterwegs gerne besucht und die auf Alt und Jung, auf Glaubende und Suchende immer wieder kraftvoll wirken.

Als Frau Armut die Gefährten des Franziskus fragte, wo sie wohnten, führten die Brüder die «Freundin ihres Herrn» auf einen Berg. Sie stiegen mit ihr schwitzend in die Höhe, nicht weil der nahe Berg ein besonderer Kraftort wäre. Das Gipfelpanorama wurde ihre Antwort: «Schau, Herrin, soweit dein  uge sieht: Das ist unser Kloster!»

Die Welt, soweit unsere Horizonte reichen, ist der Ort, wo wir Brüder auch heute leben, Gott finden, Gemeinschaft erfahren und tätig sind. Die Welt ist der franziskanische Kraftort schlechthin: von Gott geschaffen, von seiner Geisteskraft durchwirkt, von Gottes Sohn mit Leib und Seele geliebt – und von Menschen bewohnt, die mit wilden und zahmen Tieren eine grosse Familie bilden.

Das Assisi des jungen Franz

Sonnige Piazza und dunkle Gassen

Öfter staunen Leute nach dem ersten Tag einer Pilgerwoche in Assisi. Sie haben die Reize der mittelalterlichen Gassen entdeckt, sprühende Lebensfreude auf dem Hauptplatz genossen und auf den Spuren des jungen Franz die Sonnenseiten Assisis ausgekostet. Wir haben die originellsten Geschäfte prämiert und heitere Abende unten auf der Piazza verbracht. Und nirgends ist dabei ein religiöses Wort gefallen. Öfter staunen Leute genussvoll und doch überrascht, dass ein Kapuziner Assisi so ganz «weltlich» erschliesst. Franziskus schreibt in seinem spirituellen Testament, er habe sein halbes Leben gelebt, als ob es Gott nicht gäbe. Auch so war sein Weg reich. Seine Stadt hat ihm zwar keine Gotteserfahrung und dennoch viel mitgegeben. Im Rückblick wird ihm klar, dass Gott ihm auch da, in seinem weltlichen Leben, schon nahe war: ein Gott, der uns Menschen findet, lange bevor wir ihn suchen.

Als der junge Modefachmann dann über seine Karriereträume stolpert, in ein dunkles Loch fällt und schwer krank wird, tastet er in Krisenjahren nach wahrem Halt. Er erkennt, dass kein Mensch ihm diesen geben kann, und sucht nach Gott. Keine der vielen Kirchen Assisis lässt ihn finden. Es sind dunkle Gassen, die Orte der Bettlerinnen, die Licht ins Dunkel bringen. Es ist die Schattenwelt seiner Stadt, ein Hospiz Aussätziger, das Antworten auf seine Sinnfragen gibt.

Meine Assisiwochen führen in Gassen, wo keine Touristin mehr anzutreffen ist. Sie führen auf stillen Wegen hinaus in die Ebene und hinauf auf den Berg. Seltsam und wunderbar zugleich, dass die kraftvollsten Orte des Franziskus von Tausenden, die Assisi besuchen, nicht besucht werden!

Spoleto und die Kraft der Stille

Pilgerweg auf den Monteluco

Die Hauptstadt der lieblichen Talebene markiert zwei Wendepunkte im Leben des Franziskus. Hier hat er mit 23 Jahren sein Karrierestreben durchschaut, Pferd und Rüstung verschenkt und die Suche nach dem Höchsten begonnen. Auf dem nahen Berg Monteluco ist der Bruder zwei Jahrzehnte später versucht gewesen, für immer in einer Einsiedelei zu bleiben. Tatsächlich zieht der heilige Berg Umbriens heute noch in seinen Bann: ein uralter Steineichenhain mit tiefer Stille und weiten Ausblicken ins Spoletotal.

Ich liebe es, mit Gruppen am Vormittag die Stadt zu erkunden – Markt, lebhafte Gassen und romanische Kirchen voller Kunst – und nach Mittag in die Wälder des Monteluco aufzusteigen. Eine ebenso hohe wie alte Aquäduktbrücke verbindet Stadt und Stille.

Wir überqueren sie individuell und denken dabei schweigend an den nächsten Übergang, der uns im eigenen Leben herausfordert: Vertrautes lassen und auf Neuland zugehen muss jede und jeder innerlich allein schaffen beim Wechsel des Wohnorts oder Berufs und beim Übergang von einer Lebensphase in die nächste. Gut, wenn Gefährtinnen mich im Blick halten und Gefährten mir mit ihren Hoffnungen den Rücken stärken.

Der Pilgerweg auf den Berg wirkt schweigend am kraftvollsten. Steile Wege lassen uns auf einer ersten Etappe das Steinige im Leben in einen Stein legen. Dann lassen wir uns den mitgetragenen Stein von einer Gefährtin abnehmen, um selber den Stein eines anderen weiterzutragen: wortlos. Denn auch Steine sprechen.

Auf dem Monteluco angekommen, legen wir unsere Steine in einen Kreis: Er, der alles zusammenfügt, sieht sie und nimmt sie auch in seine Hand. Der Rundblick von den Felsen lässt alle Mühen vergessen: auf steinigem Grund wächst guter Wein, auf hohen Felsen zeigt die Welt ihre weite Schönheit und auf Gipfeln schauen wir in den Reichtum der eigenen Lebenswelt.

Greccio – Bethlehem ist überall

Abstieg mit einem Gott, der sich klein macht

Greccio ist der Schauplatz des ersten Krippenspiels. Nachdem Franziskus im Orient die Lebensstätten Jesu besucht hat, bringt er in der Heimat Bauernfamilien, die schollengebunden die Freiheit zum Pilgern nicht haben, Bethlehem kreativ nahe.

Über der Höhle, in der sie gemeinsam die Heilige Nacht des Jahres 1223 in Kälte und Einsamkeit, mit einem echten Kind, mit Ochs und Esel, mit Stroh und Fackeln feierten, ist ein liebliches Bergkloster entstanden. Dutzende von Autobussen fahren täglich dahin. Doch touristische Stippvisiten verlaufen meist zu schnell, um einem Gott auf die Spur zu kommen, der in Marias Schoss und Armen leise Schritte in diese Welt gemacht hat.

Mein liebster Zugang zu Greccio geschieht von oben: von den Weiden auf der Hochebene über dem Klösterchen. Ein gepflasterter Wanderweg führt in einer Stunde da hinauf. Vom Rand der Prati öffnet sich ein traumhafter Blick in das weite Rund des Rietitals.

So sehr liebte Gott unsere Welt, dass er im Sohn mit Leib und Seele in ihr leben wollte – und sich ihr verletzlich wie jedes Kind aussetzte! Dieser Weltliebe Gottes spürt ein schweigender Abstieg nach; wortlos wie Gott in Bethlehem, und Schritt für Schritt absteigend aus der Höhe in unsere Menschenwelt. Anton Rotzetter hat dazu Verse geschrieben, die unterwegs betrachtet in der Krippenhöhle ein ergreifendes Credo werden:

Gott
an der Brust einer Frau
angewiesen auf die Milch der Mutter

In unseren Bedürfnissen
lebst DU –
im Schrei des Kindes
gestillt zu werden
und in der Sehnsucht des Menschen
geborgen zu sein

In unserer Zärtlichkeit
lebst du
in der Freude von Mutter und Kind
und in der Nähe von Mann und Frau

Ich neige mich
vor der Brust der Frau
vor dem Schoss der Mutter
vor dem Leib des Menschen

Gott
an der Brust der Frau
angewiesen auf die Milch der Mutter

Anton Rotzetter

La Verna – Tiefe und Weite

Stille Mitte in einem bewegten Lebenskreis

Das Leben Jesu von der Krippe bis zum Kreuz wird Franziskus Weg und Modell. Den Gegenakzent zu Greccio setzt der Felsrücken La Verna zwischen Tiber und Arnotal. Hier hat Franziskus seine schmerzlichste Zeit verbracht. Er litt physisch an Malaria, Augen- und Milzkrankheiten, psychisch an der Entwicklung seines Ordens und spirituell an den eigenen Grenzen. Die Einsiedelei ist wie Greccio zu einem Wallfahrtsort geworden und zu einem riesigen Klosterkomplex angewachsen.

Die kraftvollsten Orte bleiben aber auch da spärlich besucht: die tiefen Felsspalten, die Franziskus in seine eigene Tiefe führten, und die hohen Felsplateaus, die im Wald über dem Kloster weite Ausblicke in die Toskana eröffnen. Aus der Tiefe heraus weit werden für die Welt. La Verna lässt diese Erfahrung mit Leib und Seele nachempfinden.

Ein schlichtes Körpergebet auf den Felszinnen bekräftigt sie: mit den Füssen die eigenen Wurzeln auf der Erde spüren und die Arme weit auf die Welt hin öffnen. So steht der Auferstandene am Kreuz von San Damiano – und so wird die Christuserscheinung beschrieben, die Franziskus auf La Verna hatte.

Je stärker die Tiefe, desto beweglicher kann die Weite werden. Dafür sind im Bergwald auch die riesigen Buchen ein Gleichnis. La Verna – ein ruhender Punkt, der den weiten Erdkreis vor Augen führt! Schönes Bild dafür, was einen wahren Kraftort auszeichnet:

Stille Mitte im bewegten Lebenskreis,
Kraft aus der Tiefe schafft Weite,
ein fester Punkt, der Kreise zieht,
eine Quellenerfahrung, die in die Welt wirkt.

Klaras Lebensorte

Assisi – Portiuncula – San Paolo – Sant’Angelo – San Damiano

Klara findet den Ort ihres Lebens in San Damiano. 42 Jahre verbringt sie da, wo Franziskus’ Weg mit Christus begonnen hat. Spirituell Sensible steigen morgens und abends zum Klösterchen vor Assisis Toren hinab. Seine Kirche verwandelt sich zu den Gebetszeiten in ein kleines umbrisches Taizé.

San Damiano ergreift mich jedoch am stärksten, wenn ich allein oder mit einer Gruppe Klaras Odyssee nachgehe und auf ihren Spuren nach zwölf Stunden Weg hier ankomme. Das Leben der Adelstochter beginnt in der Oberstadt, eingeschlossen im Wohnturm und doch sensibel für die Nöte in der Stadt. Sie bricht aus und stösst in der Portiuncula- Kapelle zur Bewegung des Franziskus. Wer frühmorgens hier eintrifft, findet wie Klara nur das frühmittelalterliche Kirchlein beleuchtet.

Ihre Spuren folgen dann dem Tesciofluss durch Eichenwald zur Benediktinerinnenkirche San Paolo delle Abbadesse. Die Nonnen von Bastia haben den Sockelstein des Altares in der Kirche belassen, an dem Klara sich festhielt, damit die Verwandten sie nicht zurückschaffen ins fremdbestimmte Leben.

An Assisi vorbei führt der Weg nach Sant’Angelo am Subasio. Die Kapelle der Waldschwestern steht noch, deren improvisiertes religiöses Leben Klara hier ein paar Wochen teilte: eine weltabgeschiedene Stille im Bergwald ohne Kontakt zur nahen Stadt. Durch Olivenhaine gelangt man von Panzo nach San Damiano, weglos wie Klara im Frühling 1211 mit ihren ersten Gefährtinnen.

In San Damiano wartet Christus mit weit offenen Augen und einem offenen Ohr, offenen Armen und einem offenen Herzen – eine Umarmung, die nach zwölftausend Schritten überwältigend wirkt. Kein Ort Assisis verbindet Stadt und Stille dichter als dieses Klösterchen, wo Klara als Freundin Gottes und Schwester der Menschen lebte: Gottesund Nächstenliebe verbindend, die in den Grenzen eines armen Klosters grenzenlos werden.

Niklaus Kuster