Was bleibt am Ende?

Alters- und Pflegeheime sind in der Vorstellung vieler Menschen nur ein Ort, wo man auf den Tod wartet. Das muss nicht so sein. Davon ist unsere Autorin überzeugt. Sie ist diplomierte Betagtenbetreuerin und arbeitet auf der Pflegestation eines Altersheimes.

Die meisten Heimbewohner sind ältere Menschen. Die Pflegestation wird voraussichtlich der letzte Aufenthaltsort dieser Menschen sein. «Sie haben ihr Leben gelebt», sagt man. Heisst dies, mit dem Eintritt in ein Pflegeheim sei das Leben zu Ende?

In vielfacher Hinsicht stimmt dies wohl. Das soziale Umfeld ist kleiner geworden. Freunde und Verwandte der gleichen Generation sind gestorben oder selbst gebrechlich, so dass sie den Heimbewohner nicht mehr besuchen können. Mit den verlorenen Beziehungen gehen auch die gemeinsamen Erinnerungen verloren. Es ist keiner mehr da, zu dem man sagen könnte: «Weisst du noch?»

Die eigenen Kinder haben selbst eine Familie, eigene Verpflichtungen, eigene Interessen. Oft schreckt sie auch die Atmosphäre eines Pflegeheimes von Besuchen ab. So deutlich vor Augen geführt zu bekommen, wie es ihnen selbst einmal gehen könnte, macht Angst, erzeugt Widerwillen und Ablehnung.

Verwirrender Alltag

Nicht alle Angehörige, Freunde und Verwandte reagieren so. Viele kümmern sich rührend um die älteren Menschen. Aber die schon angesprochene Atmosphäre eines Pflegeheimes erschwert einen ungezwungenen Umgang miteinander. Es gibt wenig Privatsphäre. Selbst in den Zimmern (meist Zweibettenzimmer) ist man selten ungestört. Da muss die Zimmernachbarin auf die Toilette oder liegt noch im Bett. Die Schwestern und Pfleger klopfen zwar an, könnten aber jederzeit das Zimmer betreten.

Im Aufenthaltsraum läuft der Fernseher oder das Radio, manchmal sogar beides. Und jemand spielt im Hintergrund Klavier. Frau Müller ruft laut, wieso das Licht noch brennt und Herr Meier will jetzt auf der Stelle nach Hause. Herr Schneider fragt jeden, den er trifft, nach der Uhrzeit. Ein Herr beginnt sich mitten im Esssaal auszuziehen. Für die Pfleger und Pflegerinnen ist dies Alltag, für Besucher verwirrend.

Für Besucher ist es oft unverständlich, wie das Personal reagiert. Vieles erscheint abstossend. Wieso tut das Personal nichts dagegen? Der Herr da, der doch offensichtlich fast nicht mehr essen kann, wieso wird der nicht gefüttert? Sein Gesicht ist schon ganz verschmiert und die Hälfte des Essens ist auf der Serviette gelandet. Missbilligende Blicke wandern zum Personal. Wofür werden die eigentlich bezahlt?

Offene Türe zum Leben

Der Eintritt ins Pflegeheim gehört zu den am meisten einschneidenden Erlebnissen im Leben eines Menschen. Auf engstem Raum mit anderen (nicht selbst gewählten) Menschen zusammenzuleben, fast ohne eigene Privatsphäre, dem Wohlwollen des Pflegepersonals ausgeliefert: Dies entpersönlicht den Menschen auf gewisse Weise. Es kann zerstörerisch auf Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl wirken. Darf man angesichts dessen und mit dem Tod vor Augen noch von «Lebendig-sein» sprechen?

Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass dies trotz aller widrigen Umstände noch möglich sein kann. Natürlich lässt sich die Lebensuhr nicht zurückdrehen. Eine achtzigjährige Frau wird nicht wieder zu einer zwanzigjährigen, auch wenn sie sich manchmal in ihrem Inneren so fühlen mag. Sie wird wahrscheinlich auch kaum noch Interesse an einem Discobesuch haben. (Allerdings, auch das soll vorkommen …)

Aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass wir die Tür zum Leben dieser Menschen nicht schliessen, sondern offen lassen. Es geht darum, unseren Blick nicht gefangen nehmen zu lassen von dem, was der Mensch nicht mehr kann. In der Fachsprache nennen wir dies, das Defizitmodell.

Alter ist keine Krankheit

Stattdessen versuchen wir, das zu erhalten oder zu aktivieren, was diesem Menschen noch möglich ist. Dabei geht es darum, dass wir ihn nach Möglichkeit in seiner Ganzheit erfassen und wahrnehmen. Das Alter ist keine Krankheit, Vergesslichkeit auch nicht. Dass ein alter Körper sich mühsamer bewegen lässt, das Gehör, die Augen nachlassen, ist eine schmerzliche Tatsache.

Aber der ältere Mensch verlangt ebenso wie ein junger nach Anerkennung, Zuneigung und Wertschätzung. Eine Pflege, die sich nur auf das Allernotwendigste (waschen, anziehen und nähren) beschränkt, wirkt sich verheerend auf den Menschen aus.

Ebenso schlimm ist es jedoch, ihm alles abzunehmen, und ihn damit von uns abhängig zu machen. Ein abhängiger Mensch reagiert aber immer mit unterschwelligem Zorn. Zeigen darf er diesen Zorn jedoch nicht, dann wäre er ja nicht mehr «lieb». Der Helfer würde ihm vielleicht seine Zuneigung entziehen. Abhängige Menschen sind deswegen in der Regel eher krank, unzufriedener und ängstlicher als selbständige.

Natürlich sind wir alle mehr oder weniger abhängig voneinander. Nehmen wir einem Menschen jedoch Dinge ab, die er noch selbst erledigen könnte, auch wenn dies nicht mehr so gut gelingt wie früher, dann nehmen wir ihm damit auch die Verantwortung für sein Leben ab, und damit letztlich auch das Leben selbst. Was der ältere Mensch dagegen braucht, ist echte Zuwendung. Zeit, die wir als Pflegepersonal oft nicht haben.

Menschen brauchen Kontakte

Ein Mensch braucht menschliche Kontakte, sonst stumpft er ab. (Von Martin Buber stammt der Ausspruch: Ein Mensch wird erst zum Menschen durch ein Du.) Ein Mensch, dessen Seele brachliegt, weil nichts mehr ihn berührt, keine neuen Bilder ihn erreichen, wird zu einer leeren Hülle. Der Blick geht ins Leere, es ist ein Tod vor dem Tod.

Ich habe von den Einschränkungen im Alter gesprochen und wie wir damit umgehen können. Hier einige Beispiele: Ein Betagter kann die Nahrung nicht mehr so gut zerkleinern wie früher, weil die Zähne oder das Gebiss ihre Aufgabe nicht mehr so gut erfüllen. Das Essen kann z.B. weicher gekocht, gröber oder feiner zerkleinert werden. Vielleicht ist auch der Besuch beim Zahnarzt angesagt. Es gibt Angehörige, die meinen, dies würde sich doch nicht mehr rentieren. Es gibt ja Breikost. Wer von uns Jüngeren wäre auf Dauer damit einverstanden? Ganz abgesehen davon, dass eine Breikost den schon etwas trägen Darm eines älteren Menschen noch mehr lahm legt. Aber dagegen gibt es ja auch Medikamente oder ein zwei Einläufe pro Woche …

Spaziergang im Regen

Was bedeutet es, auch im Alter lebendig zu sein? Im Alltag bedeutet dies, dass wir die Menschen nicht ausschliessen von den ganz banalen alltäglichen Begebenheiten; von Dingen, die wir auch in jüngeren Jahren gerne tun oder gerne getan hätten. Dadurch unterscheidet sich nämlich der ältere Mensch nicht von uns jüngeren. Er möchte sein Leben gerne selbst bestimmen, Gewohnheiten und «Mödeli» leben zu dürfen. Nicht alles ist im Heim machbar. Aber vieles wäre möglich.

Ich nehme hier das Beispiel von einem Spaziergang im Regen. Regen bedeutet «schlechtes» Wetter. Bei schlechtem Wetter gehen wir mit dem Heimbewohner nicht nach draussen. Dabei gibt es für den Rollstuhl einen Regenschutz, einen warmen Fusssack und warme Kleider. Woran liegt es also, dass uns die Idee jetzt nach draussen zu gehen, nicht in den Sinn kommt.

Leben zulassen

Ich glaube, unser Unvermögen Leben zuzulassen, liegt zum Teil daran, dass wir selbst nicht wissen, was es bedeutet. Wir gehen durch den Regen, aber wir er-leben den Regen nicht. Stellen wir uns vor, wir kämen aus der Wüste. Regen wäre für uns etwas vollkommen Neues. Wie würden wir ihn dann empfinden? Würden wir ihn nicht schmecken, riechen, fühlen wollen? Wir würden bemerken, wie die Strasse glänzt. Wie es aussieht, wenn bei einem Platzregen die Tropfen auf dem Pflaster auftreffen und fein verteilt in die Luft zurückgeschleudert werden.

Es ist dieses Immer-wieder-Staunen-dürfen am Leben und wie dieses Leben geschieht. Der Regen ist dafür nur ein Beispiel. Manchmal denke ich, dass wir verlernt haben, dieses alltägliche Wunder zu sehen, weil wir so daran gewöhnt sind. Gewöhnung macht uns zu blinden, tauben Menschen. Doch vor lauter Darüber-hinweg-leben, gehen uns die Tage verloren. Das bewusste Da-sein findet nicht statt. Das bewusste Erleben (und Gewahr-werden) würde unsere Gefühle und Empfindungen bereichern und nicht zuletzt auch dazu beitragen, dass wir dankbarer und zufriedener wären.

Gespräch der Nähe

Zurück zum Altersheim: Lebendig sein würde in diesem Fall heissen, auch mal bei Regen hinauszugehen und bewusst wahrzunehmen, was dabei alles geschieht. Wie riecht die Luft, welche Farbe hat der Himmel, wie klingt der Regen auf dem Dach? Welche Erinnerungen werden wach, welche Gefühle? Vielleicht geschieht dabei ein Gespräch der Nähe. Gemeinsames Erleben schafft Verständnis füreinander. Dadurch wird Vertrauen erst möglich und das Zutrauen, dass der andere uns nichts Böses will. Und das alles wegen ein bisschen Regen, werden Sie sagen.

Leben ist immer ein Angebot. Der Regen ist dafür nur ein Symbol. Es geht letztlich darum, soviel wie möglich vom Leben zuzulassen. Oder besser gesagt, es zu er-möglichen. Wer selber isst, und ginge das noch so schlecht, der kann sich aussuchen, was er als nächstes auf die Gabel spiesst. Und wenn er keine Rüebli will, so wird er sie auf dem Teller liegen lassen, statt dass er sie in den Mund gestopft bekommt (und nicht auszuspucken traut, weil «man das nicht macht»). Wer selber isst, kann das Tempo selbst bestimmen, und nicht der Pfleger, der sich vielleicht gerade mit seiner Kollegin unterhält.

Statt dauerndes Fernsehen

Warum sitzen Heimbewohner manchmal stundenlang vor dem Fernseher? Ich rede nicht von denen, die sich selbst davor setzen; sondern von denen, die von Angehörigen oder auch vom Personal davor gesetzt werden. Ständiges Fernsehen verflacht unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle. Die Realität findet nicht mehr statt. Denn wir müssen uns nicht mehr mit ihr auseinandersetzen.

Die meisten Heime verfügen über eine kleinere oder grössere Bibliothek. Meistens hat es auch schöne Bildbände darunter. Warum schauen wir dann nicht zusammen einen Bildband an? Dabei darf sogar geredet werden, was beim Fernsehen in der Regel nicht erwünscht ist. Ich weiss, dass das Vorlesen nicht mehr «in» ist. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, das ältere Menschen es mögen, wenn man ihnen vorliest. Viele Heime verfügen heute auch über ein Lesegerät. Es vergrössert die Schrift, so dass selbst Menschen mit geringem Sehvermögen noch dazu imstande sind, z.B. die Tageszeitung zu lesen.

Ermöglichen wir bewusstes Schauen, Fühlen, Horchen und Schmecken. Aktivieren wir die Sinne, damit das Leben wieder einen Sinn hat.

Angehörige

Eine sehr wohlmeinende Tochter sagte bei der Einlieferung zu ihrer Mutter: «Muetti, jetzt sollst du es noch schön haben. Jetzt musst du nichts mehr tun. Das machen jetzt die Schwestern für dich.» Gemeint hat sie damit wohl, dass die Pflegenden der Mutter nun alles abnehmen werden. Im Klartext heisst dies für mich: Wir nehmen dem Menschen damit auch das (noch vorhandene) Leben ab.

Als Pflegende tun wir uns manchmal schwer mit den Ansichten und Ansprüchen der Angehörigen. Aus falsch verstandener Liebe oder auch Schuldgefühlen heraus, neigen manche Angehörigen dazu, über das Leben des Menschen, der nun notgedrungen im Heim lebt, bestimmen zu wollen.

Der Heimbewohner ist sich wiederum in den meisten Fällen sehr bewusst, dass er auf das Wohlwollen seiner Angehörigen angewiesen ist. Also spielt er das Spiel unfreiwillig mit. Sich wehren hiesse, sich unbeliebt machen. Vielleicht kämen die Angehörigen dann weniger oft oder vielleicht gar nicht mehr.

Manche Heimbewohner äussern zwar dem Personal gegenüber ihre Wünsche. Wenn dann die Angehörigen da sind, schwenken sie auf deren Meinung ein. Eine schwierige Situation für die Pflegenden! Neulich beschwerte sich ein Angehöriger bei mir, weil die Mutter im Bett lag. Ich erklärte ihm, dass sie sehr müde gewesen sei und darum gebeten hätte, ins Bett gehen zu dürfen. Im Beisein seiner Mutter, die sehr wohl verstand, um was es ging, sagte er zu mir: «Was sie sagt, danach kann man sich nicht richten!» Der Mann sprach seiner Mutter also öffentlich die Fähigkeit ab, selbst über sich zu entscheiden zu können.

Leben ist ein Angebot

Wir lernen in jungen Jahren, unser Leben selbst in die Hände zu nehmen, Entscheidungen zu fällen und die Konsequenzen unserer Entscheidungen zu verantworten. Im Leitbild vieler Heime – auch jenes, in dem ich arbeite – steht sinngemäss: Wir haben die Persönlichkeit des Heimbewohners zu achten, und zwar unabhängig davon, wieweit er für sein Tun und Handeln noch selbst die Verantwortung tragen kann. Das Pflegepersonal übernimmt nur in dem Masse die Verantwortung für den Bewohner, wie es notwendig erscheint, um sein Leib und Leben zu schützen.

Dies ist die Grundlage für unsere Arbeit. Darauf aufbauend wäre vielleicht noch hinzuzufügen: Ermöglichen wir auch dem älteren Menschen, das Leben bewusst wahrzunehmen. Auch wenn das Leben wie es uns erscheint, unverständlich, ja befremdlich ist. Leben ist nicht statisch. Es ist Bewegung, Veränderung. Leben ist, im Jetzt zu sein. Auch im Hinblick auf unsere letzte Veränderung. Nicht als ein Muss, sondern als die Chance zu einem «Du darfst».

Anke Maggauer-Kirsche