Lebensmittel: «Wegwerfwahnsinn»

Ungefähr die Hälfte aller Lebensmittel wird vernichtet. Millionen von Tonnen landen jährlich im Abfall. Das Essen, das in Europa weggeworfen wird, würde zwei Mal ausreichen, um alle Hungernden der Erde zu ernähren.

Mein Vater, ein Kleinbauer, regte sich auf, wenn er Äpfel nicht verkaufen konnte, weil sie auch nur winzige Flecken von Schorf hatten. Heute, etwa 30 Jahre später, würde er die Welt vollends nicht mehr verstehen. Denn die aktuellen Vorschriften führen dazu, dass nur noch «perfektes» Gemüse und formvollendete Früchte in den Handel kommen. So dürfen beispielsweise Äpfel, die einenDurchmesser von weniger als sechs Zentimeter haben, nicht verkauft werden.

Szenenwechsel: Ich bin auswärts zum Abendessen eingeladen. Meine Gastgeberin möchte mir als Vorspeise Tsatsiki anbieten, die griechische Spezialität aus Gurke und Joghurt. Sie bittet mich, unterwegs im Supermarkt mit dem grossen M ein griechisches Joghurt einzukaufen. Kein Problem. Oder doch? Denn im Laden befällt mich ein «Produkteflimmern». Ich bin

überwältigt vom riesigen Angebot an Joghurts. Aus Neugierde schreite ich das Gestell ab und zähle zehn Schritte. Auf der ganzen Länge gibt es übereinander sechs Regale. Wie soll ich da als ein des Einkaufens unkundiger Mensch «mein» Joghurt finden?

20 Millionen Tonnen Verluste

Die beiden Beispiele verweisen auf ein trauriges Phänomen, das erst in den letzten paar Jahren ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gedrungen ist: die immense Verschwendung von Lebensmitteln. Allein in Deutschland werden jährlich 20 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen: was 500’000 Lastwagen entspricht. In der Schweiz dürfte die Situation kaum besser sein.

Zur Bewusstseinsbildung in Sachen «Wegwerfwahnsinn» haben vor allem eine Fernsehsendung beziehungsweise ein Kinofilm undein Buch  beigetragen. Der Film «Taste the waste» kam im Herbst 2011 in die Kinos.  Das Buch heisst «Die Essensvernichter. Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist» (vom Journalisten Stefan Kreutzberger und vom Filmemacher Valentin Thurn). Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf dieses Buch.

Perfekt aussehen

Zuerst einige erschreckende Zahlen: Weltweit werden rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel verschwendet. Dies entspricht fast der gesamten Produktion Schwarzafrikas. In Europa und in den USA wirft im Jahr durchschnittlich jeder Einwohner 95 bis 115 Kilo Lebensmittel in den Abfall – das meiste davon noch durchaus essbar. Dabei werden unvorstellbar hohe  Werte vernichtet. Die Deutsche Welthungerhilfe rechnet, dass allein in Deutschland für 20 Milliarden Euro Lebensmittel zerstört werden.

Der Skandal des Wegwerfens findet nicht allein in den Haushalten statt. Er spielt sich auf allen Ebenen der Produktekette ab. Es beginnt bei der Ernte. Vor allem die EU-Vermarktungsnormen tragen dazu bei, dass bei manchen

Früchten und Gemüsen die Hälfte oder mehr nicht in den Umlauf kommen. Allein für die Äpfel füllen die Normen 20 eng bedruckte Seiten. Zu den  Vorschriften zählt nicht nur die schon erwähnte Mindestgrösse. Auch die  Farben der Apfelhaut unterliegen strengsten Vorschriften. So muss die Haut der Sorte Braeburn auf wenigstens 33% der Oberfläche rot gefärbt sein, um in die Klasse 1 der Früchte aufgenommen zu werden. Eine andere Klasse kommt nicht in den Handel.

Auch keineswegs schädliche «Deformationen» führen zur Vernichtung der Ware. Herzförmige Kartoffeln haben keine Chance, obwohl sie so «romantisch» aussehen. Mit weiteren absurden Beispielen liessen sich ganze  Seiten füllen – wobei die «Unvollkommenheit » der Ware den Essensgenuss überhaupt nicht beeinträchtigen würde. In allen Fällen bleibt das Produkt beim  Produzenten liegen – und wird oft untergeackert.

Wozu 100 Joghurts?

Jedes Mal, wenn ich von einer Reise aus südlichen Kontinenten zurückkomme, bin ich vom hiesigen Warenangebot erschlagen. Und der Überfluss nimmt immer noch zu. Dazu heisst es im Buch «Die  Essensvernichter»: «Im Zeitraum von zehn Jahren hat die Anzahl der angebotenen Waren in deutschen Supermärkten um 130% und die der Produkte-Varianten sogar um bis zu 420% zugenommen.»

Die erschlagende Vielfalt kommt nicht von ungefähr. Die Konsumenten sind anspruchsvoller geworden. Ein Experte erklärt dies am Beispiel des für mich  so bedrohlich wirkenden Superangebots an Joghurts: «Die Leute brauchen einen Joghurt, der sie morgens aktiviert, einen Joghurt, der sie nachmittags  ausbalanciert, einen Joghurt, der die Abwehrkräfte stärkt, einen Joghurt, der die Verdauung anregt, und das bitte in allen Geschmacksvarietäten. Dadurch entsteht diese ungeheure Fülle.»

60 Sorten Brot

Ähnlich beim Brot. Vor 40 Jahren gab es (in Deutschland) vielleicht 10 Brot- und 5 Brötchensorten. Heute gibt es rund 60 Brot- und 30 Brötchensorten. Und alles muss bis zum Ladenschluss in den Regalenvorhanden sein. Sonst  gibt’s gehässige Reaktionen – und der Kunde oder die Kundin gehen zur Konkurrenz. Dies führt dazu, dass die Bäcker bis zu 20 Prozent mehr produzieren, als sie verkaufen können. Und so viel Brot wird dann weggeworfen. (Wie sich in den letzten Jahrzehnten die Einstellung zum Brot geändert hat, zeigt derArtikel vonAnkeMaggauer-Kirsche  auf S. 98 dieses Franziskuskalenders.)

So unsinnig die Überproduktion ist, macht sie für den Verkäufer doch Sinn. Denn je mehr verschiedene Produkte im Laden vorhanden sind, umso mehr wird verkauft. Man rechnet, dass 70 Prozent der Kaufentscheide im Laden fallen. Animierend wirken hier auch «Sonderangebote», in der Schweiz oft «Aktionen» genannt. Wer möchte dem Angebot «2 für 1» widerstehen – auch wenn das zweite Produkt sehr wahrscheinlich auf dem Abfall landet, weil man tatsächlich nur eins gebraucht hätte?

Unsinniges

Wenn auch nur ein kleiner Teil einer Ware nicht den Normen und den gängigen Vorstellungen entspricht, wird das Ganze weggeworfen. Ein oder zwei verfaulte Früchte genügen und alle andern in einer Kiste werden  vernichtet. Dies kommt den Supermarkt offenbar billiger zu stehen, als wenn das Personal die guten von den verdorbenen Früchten aussortieren muss.

Auch draussen auf dem Markt kennt man unsinnige Praktiken. Eine Mitarbeiterin des Teams von «Taste the waste», durch die Arbeiten am Film für die Problematik hellhörig geworden, bemerkte ein Bündel Weintrauben, das an einem Ende etwas angefault war. Sie fragte den Händler, ob sie die Trauben zu einem heruntergesetzten Preis bekäme. Nein! Was man nun mit der Ware mache? Wegwerfen!

Schädlich fürs Klima

Der verantwortungslose Umgang mit Lebensmitteln ist nicht nur ein Vorgang, der die Gefühle von Menschen verletzt, die in frühen Jahren darben mussten und deshalb noch wissen, welchen Wert die Nahrung hat. Wenn davon so viel vernichtet wird, hat dies auch weltweite Auswirkungen. Ein gravierendes Problem ist die Verschwendung von Energie und Rohstoffen. Die Autoren des vorliegenden Buches meinen sogar: «Der Lebensmittelmüll trägt mehr zum Klimawandel bei als der gesamte Verkehr.» Denn ein Drittel der  schädlichen Klimagase entsteht bei der Herstellung von Lebensmitteln. Würden wir nicht die Hälfte davon wegschmeissen, würde der Klimawandel weniger bedrohliche Formen annehmen.

Hunger

Eine zweite unheilvolle Folge ist die Auswirkung auf die Hungernden. Zwar ist ihnen nicht direkt geholfen, wenn Kindern mit grossem erzieherischem Aufwand beigebracht wird, alles auf dem Teller artig aufzuessen. Doch es bestehen ganz direkte Zusammenhänge zwischen unserer Verschwendung und dem Hunger im Süden. Das Stichwort heisst «Preissignal». Dazu die  Autoren der «Essensvernichter»: «Dadurch, dass wir etwas wegwerfen, geht im Rest der Welt der Preis dafür hoch. Je mehr wir wegwerfen, umso höher der Preis. Unser Wegwerfen führt damit indirektzu Hunger auf der Welt.»

Es spielt hier also im weltweiten Massstab die Regel von Nachfrage und Angebot. Je mehr eine Ware verlangt wird, umso rarer und teurer wird sie. (Bei manchen industriell gefertigten Produkten ist es vielfach anders. Je mehr Computer hergestellt werden, umso günstiger sind sie zu haben.)

Übrigens: Nach Erscheinen des Buches kam die Meldung, dass die Lebensmittelpreise an den internationalen Märkten im Jahr 2011 einen historischen Höchststand erreicht haben.

Was tun?

Es genügt nicht, über die skandalösen Zustände den Kopf zu schütteln. Denn die Konsumentinnen und Konsumenten sind nicht machtlos. Doch bevor sie handeln können, müssen sie die Güter der Schöpfung vermehrt wertschätzen: «Es ist höchste Zeit für uns, Lebensmittel wieder als Wert schätzen zu lernen und mit allem, was unser Essen betrifft, bewusster umzugehen.» (Wolfgang Jamann, Generalsekretär der Deutschen Welthungerhilfe)

Hier ist auch ein weites Feld für die Erziehung: Wenn ein Kind lernt, dass die Milch nicht von der Migros kommt und dass ein Schwein sein Leben lassen  muss, damit wir Koteletts auf dem Tischhaben, wird es weniger leichtfertig mit dem Essen umgehen.

Es wurde schon angetönt, wiesinnvoll es ist, sich  vom Überangebot und von Sonderangeboten nicht zu nutzlosen Käufen verführen zu lassen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt der Umgang mit Verfalldaten. Im Supermarkt werden die Waren vielfachschon zwei Tage  vor diesem Datum «aussortiert», wie der verniedlichende Ausdruck lautet. Wer kauft schon ein Joghurt, das am nächsten Tag «abgelaufen» ist?

Doch Untersuchungen haben ergeben, dass die Produzenten damit recht unterschiedlich und willkürlich umgehen. Die gleiche Ware hat bei einem andern Hersteller ein früheres oder späteres Verfalldatum. Dieses bedeutet nicht unbedingt, dass das Produkt nachher nicht mehr zu konsumieren ist. Die Berliner Tafel, die bald abgelaufene Ware sammelt und sie Bedürftigen abgibt, liess von den Herstellern bei bestimmten Produkten garantieren, dass diese noch ein halbes Jahr nach dem «Mindesthaltbarkeitsdatum» problemlos geniessbar sind. (Allerdings trifft dies bestimmt nicht auf leicht Verderbliches wie Fleisch und Fisch zu.)

Es gibt Alternativen zum «Aussortieren». So erlaubt die niederländische Supermarktkette «Jumbo» den Kunden, die ein Produkt mit einer Ablauffrist von unter zwei Tagen finden, es gratis mitzunehmen.

Bei einem andern Bereich der Verschwendung ist die Politik gefragt. Wenn sie wieder erlaubt, die Schweine mit gut abgekochten Küchenabfällen zu versorgen, hat dies enorme Auswirkungen. Allein schon die deutschen Bauern würden dann den Sauen 400’000 Tonnen (!) weniger Getreide verfüttern.

Fünf Tipps

Wir zitieren hier fünf Tipps, welche die Vorschläge zum Handeln zusammenfassen und weiterführen:

1. Geplant einkaufen
2. Haltbarkeit überprüfen
3. Passende Mengen kaufen
4. Vorräte richtig lagern
5. Reste weiterverwenden

Der Italiener Carlo Petrini, ein Vorkämpfer für den bewussteren Umgang mit Lebensmitteln, betont: «Der Kampf gegen die Verschwendung sollte eines unserer wichtigsten Ziele werden. Das Essen nicht zu verschwenden heisst, die Erde, die wir bewohnen, zu schätzen und die Menschen zu respektieren.»

Walter Ludin

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Wohin mit dem Bioabfall?

Ungenutzt macht der Bioabfall, der aus Lebensmittelresten, Rüstabfällen aus der Küche und Grünabfällen von Balkonpflanzen oder Gartengewächs besteht, etwa ein Drittel des Abfallsacks aus. Wer sich also für das konsequente separate Sammeln des Biomülls entscheidet, spart eine beträchtliche Summe bei den Sackgebühren ein. Zudem stellt der Bioabfall eine klimafreundliche Energiequelle dar. Um den Bioabfall möglichst effektiv zu entsorgen, muss man ihn separat sammeln und in die kostenlose Sammlung von Grünabfall der Gemeinde geben.