Abschied von Glaubensvorstellungen

Wenn (fast) alles sich wandelt

Anhand zweier Texte aus der Bibel zeigt der Autor, wie bei Kindern und Jugendlichen Glaubensvorstellungen sich radikal ändern. Wie in der Gesellschaft wurde der Wandel auch in der Kirche zum Lebensprinzip – ob es uns gefällt oder nicht.

«Die Bibel lügt!» Vor der Lehrperson steht ein Zehnjähriger, der feststellt, dass beim ersten Schöpfungsbericht zuerst die Tiere, dann die Menschen geschaffen wurden (Gen 1,20–27). In der Paradiesesgeschichte hingegen ist es gerade anders: «Dann sprach Gott der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch (Adam) allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott, der Herr formte aus dem Ackerboden des Feldes alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde.»(Gen2,18–19). «Nein, das kann nicht stimmen –und in der Biologie haben wir das anders gelernt. Die Bibel lügt», stellt der Schüler verärgert fest.

99 Schafe verlassen?

In einem Bilderbuch für Siebenjährige ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf folgendermassen dargestellt: Der Hirt hat die neunundneunzig Schafe in einem Pferch zusammengetrieben und der Schäferhund bewacht den Eingang. Der Hirte ist auf dem Weg, das verlorene Schaf zu suchen.
«Nein, das darf man nicht! Mit einer solchen Darstellung geht die Botschaft des Gleichnisses verloren», werden die einen sagen. Denn der Hirt lässt die 99 unbewacht und unbeschützt in der Steppe stehen. Das ist die Pointe des Gleichnisses. Andere wiederum wenden ein, dass einem Kind das Gleichnis in seiner biblischen Form nicht zumutbar ist – die Ungeheuerlichkeit, 99 Schafe wegen einem verlorenen Schaf im Stich zu lassen, könnte bei jüngeren  Kindern Ängste wecken und bei Jugendlichen als ungerecht empfunden werden.

«Dinner for One»

Die menschliche wie die religiöse Entwicklung ist ein Weg mit Veränderungen. Einerseits verändert sich der Mensch selber. Er ist erst in einem höheren Alter fähig, gewisse religiöse Vorstellungen zu verstehen. Dazu muss er religiöse Vorstellungen eines Kinderglaubens loslassen und sich auf seine im Leben neu entstehenden religiösen Fähigkeiten einlassen. Andererseits leben wir in einer sich schnell verändernden Gesellschaft. Erwachsene können Kinder und Jugendliche nicht mehr – wie beispielsweise in einer bäuerlichen Gesellschaft – auf starre Welt- und Lebensbilder hin erziehen. Menschen müssen heute fähig sein, Lebensorte, Berufe, ja selbst Beziehungen los- zulassen, um sich in veränderten Situationen wieder neu ins Leben und in den Glauben einzulassen. Wenn sie dazu nicht fähig sind, dann werden sie scheitern.

Eindrücklich kommt dies im lustigen Silvesterfilm «Dinner for One/Der 90. Geburtstag» zum Ausdruck: Obwohl die vier Freunde der Jubilarin schon lange gestorben sind, wird das Festessen mit ihnen wie eh und je zelebriert. Der Butler muss die gestorbenen Gäste ersetzen und ist durch das viele Anstossen bald betrunken. Er torkelt um den Tisch. Und das Publikum ist gespannt, ob und wann er fällt.

Stufen des Glaubens

Entwicklungspsychologen und Theologen haben unterschiedliche Modelle entworfen, um menschliche Entwicklungsstufen und Stufen des Glaubens nachzuweisen. Einen Klassiker schrieb James W. Fowler. In Anlehnung an die Theorie der Lebensphasen von Erik H. Erickson formuliert Fowler sechs Stufen des Glaubens.

Im Folgenden sollen die ersten vier Stufen auf die Fragen hin beschrieben werden, welche Auswirkungen Entwicklungsstufen des Glaubens aufs Loslassen und sich wieder neu Einlassen haben. Oder praktisch gefragt: Warum kann der zehnjährige Schüler zwei widersprüchliche Schöpfungsberichte kaum nebeneinander stehen lassen? Wieso lügt die Bibel für ihn? Wem kann das Gleichnis vom verlorenen Schaf für den Glauben wirklich Nutzen bringen?

Einheitliche Erfahrungswelt

Stufe 1 von Fowler entspricht einem intuitiv-projektiven Glauben, der vor allem bei drei- bis siebenjährigen Kindern feststellbar ist. Die besondere Stärke dieser ersten Stufe ist die Fähigkeit, die Erfahrungswelt zu einer Einheit zusammenzufassen. Geschichten sind Episoden und werden nicht miteinander verbunden. Episode Schaffung der Adam stehen unverbunden nebeneinander und erzeugen keinen Widerspruch.

Damit das Kind eine Stufe weiterkommen kann, muss es diese Einheit loslassen und sich auf Unterscheidungen einlassen. Nicht jede Wirklichkeit ist Realität. Wenn das Kind seine Mutter im Fernsehen als Moderatorin sieht, dann kann es nicht mit ihr sprechen – mediale Wirklichkeit entspricht nicht realer Wirklichkeit.

Mythisch-wörtlicher Glaube

Stufe 2 entspricht einem mythisch-wörtlichen Glauben, der ab sieben Jahren zu beobachten ist. Das Kind kann Zusammenhänge von Ursache und Wirkung verstehen. Glaubensinhalte und Regeln werden eindimensional und wörtlich verstanden. Es geht nun nicht mehr um Episoden, wie in der ersten Stufe, sondern um linear verstandene Geschichten. Dabei dürfen sich die Geschichten nicht unterscheiden oder sogar widersprechen – entweder wurde zuerst der Mensch geschaffen oder das Tier.

Themen wie Gerechtigkeit und Fairness sind den Kindern in dieser Stufe sehr wichtig. Alle müssen gleich behandelt werden. Gott ist der gerechte und strenge Richter. Er belohnt und straft. 99 Schafe wegen einem verlorenen zu verlassen, wäre vorerst einmal ungerecht und unklug.

Für die Erklärung der Welt kann und darf es nicht mehrere Varianten geben. Es ist unlogisch. Um nun in die nächste Stufe gelangen zu können, muss das lineare Empfinden losgelassen werden. Das Kind, nun schon bald ein Jugendlicher, muss sich durch die Widersprüche des Lebens hindurch auf unterschiedliche Perspektiven einlassen können.

Autoritäten und Vorbilder

Stufe 3 entspricht einem synthetisch-konventionellen Glauben, wie er ab der Pubertät anzutreffen ist. Der Jugendliche lernt unterschiedliche Perspektiven zu sehen: Er nimmt sich selber hypothetisch wahr. Er versetzt sich in andere Menschen. Dabei beeindrucken ihn Vorstellungen von Gott als einem personalen Anderen. Diese Stufe bleibt noch konventionell und konformistisch.

Der Jugendliche bildet kein eigenes Urteil – er verlässt sich bei Werten und bei Glaubensinhalten auf Autoritäten (Vorbilder) oder Gruppen (z.B. Gleichaltrige). Wenn der Vater als Autorität meint, die Bibel erzähle unwahre Märchen, dann ist dem so. Wenn die Vertrauenspersonen meinen, dass man 99 wegen einem stehen lassen kann, dann wird das richtig sein. Damit der Jugendliche eine Stufe weiterkommen kann, muss er sich von sozialen Zwängen lösen und lernen, zu sich selber zu stehen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Distanziert kritisch

Stufe 4 entspricht einem individuierend- reflektierenden Glauben, wie er ab 20 Jahren möglich wird. Der junge Erwachsene distanziert sich kritisch von seinem einst stillschweigend angenommenen Wertesystem und verlagert verortet seine Autorität in sein Ich. Er wählt seinen Lebensstil, seine Anschauungen und seine Gruppenbeziehungen eigenständiger. Ausserdem unterscheidet er zwischen Ausdrucksformen (Symbolen, Riten) des Glaubens und deren Bedeutung.

Der erste Schöpfungsbericht erzählt mit dem Bild der sieben Tage von einer geordneten und guten Schöpfung; der zweite Schöpfungsbericht mit dem Bild Adams die Bezogenheit vom Menschen auf seine Mitgeschöpfe und auf Gott, aber auch auf seine Macht und Verantwortung: Adam darf den Tieren den Namen geben. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf erzählt vom Suchen Gottes nach jedem einzelnen.

Die folgenden beiden Stufen sind sehr kompliziert – die sechste Stufe hat selbst Fowler nicht beschrieben. Die Altersangaben sind mit grosser Vorsicht zu geniessen. Manche Erlebnisse können Menschen dazu bringen, sich schneller zu entwickeln. Andererseits können Erwachsene, die nicht mehr loslassen und sich nicht auf Entwicklung einlassen, auf einer niederen Stufe verharren.

Alles wird anders

Angie (Kierston Wareing) ist die Hauptperson im Film «It’s a free World/Globalisierung leicht gemacht » von Ken Loach. Sie ist alleinerziehende Mutter und Powerfrau – wobei die Lebensumstände sie in diese Rollen gezwungen haben. Zwischen ihr und ihrer Mutter gibt es keinen Dialog mehr. Angies Leben entspricht nicht den Vorstellungen von Leben, wie es von ihrer Mutter gelebt und vertreten wird.

Mit dem Vater, der jedoch seine eigenen Werte und seinen Lebensstil überzeugt vertritt, gibt es im Film mehrere Diskussionen. Auf einem Spielplatz sprechen Tochter und Vater über ihre Berufs- und Familiensituationen. Der Vater legt Wert darauf, dass er dreissig Jahre beim selben Arbeitgeber angestellt war.

Angie erwidert ihm, dass sie nach ihrem Studium die Arbeitssituation schon bald dreissigmal verändern musste. Der letzte Arbeitgeber hat ihr gekündigt, weil sie sexuelle Übergriffe zurückgewiesen hat. Angie hat von einem alkoholkranken Mann ein Kind. Doch lebt sie schon lange nicht mehr mit diesem zusammen. Mit 33 lernt sie Karol (Leslaw Zurek) kennen. In einem vertraulichen Gespräch mit ihm gesteht sie dem Mann, dass sie heute nicht mehr beziehungsfähig sei. Er komme zum falschen Zeitpunkt. Dies ist eine der heute möglichen Lebensgeschichten. Nicht nur im Film, sondern auch im Leben gibt es noch viele andere.

Lebensprinzip Loslassen

Erziehung, auch christliche Erziehung, ist gezwungen auf diese Vielfalt der Lebensperspektiven einzugehen, aber auch auf diese Änderungen hin zu erziehen. Heutige Eltern und Lehrer begleiten Kinder in eine Zukunft, die in ihrer Entfaltung nicht abschätzbar ist: Jedes Jahr zwei Computergenerationen, regelmässige Stellenwechsel– wenn nicht sogar Zeiten der Arbeitslosigkeit –, Ortswechsel, Beziehungswechsel auf unterschiedlichsten Stufen (Freunde, Arbeits- und Vereinskollegen usw.) prägen das Leben. Wer weiss welche Möglichkeiten uns die Wissenschaften, beispielsweise die Biologie, in der Zukunft noch eröffnen?

Loslassen und sich auf Neues, Anderes einlassen ist zum Lebensprinzip heutiger Gesellschaften geworden.

Erstaunliche Treue

Erstaunlicherweise scheint in der Schweiz die religiöse und kirchliche Zugehörigkeit wenig von diesen Veränderungen betroffen zu sein. Neuste Untersuchungen zeigen, dass die meisten Menschen ihren Religionen und Konfessionen treu bleiben: einmal katholisch, immer katholisch. Religions- oder Glaubenswechsel sind selten. Prozentuale Veränderungen der Religionsverhältnisse haben in der Schweiz vor allem mit Migrationsbewegungen und Bevölkerungswachstum zu tun. GastarbeiterInnen sind in anderen Religionen erzogen worden und bleiben diesen auch in der Schweiz treu. Wenn es eine Tendenz zu Verschiebungen des religiösen Empfindens gibt, dann ist es eine langsame Lösung von religiösen Autoritäten und Systemen, hin, zu konfessionslosen Lebenswirklichkeiten, die nicht unbedingt als unreligiös verstanden werden können.

Gesucht: Kirche

Die Treue zur Ursprungskonfession ist in der Welt nicht überall gleichermassen eindeutig wie in der Schweiz. In den USA gibt es den Begriff «Church shoping». Darunter wird verstanden, dass man bei einem Ortswechsel zuerst die unterschiedlichen Kirchen anschaut. Man sucht sich an jedem neuen Lebensort diejenige kirchliche Gemeinschaft aus, die einem am besten gefällt. «In New York war ich Baptist, in Jersey katholisch und in New Bern anglikanisch », kann man beispielsweise erfahren.

Das scheint jedoch eine Art von Veränderung zu sein, die zurzeit für die Schweiz wenig Bedeutung hat. Loslassen müssen wir jedoch die Vorstellung, in einem rein christlichen oder sogar katholischen Land zu leben. Einlassen müssen wir uns auf ein friedliches und hoffentlich auch bereicherndes Zusammenleben mit anderen Konfessionen und Religionen.

Vertrauen und Hoffen

Vertrauen können wir nach dem ersten Schöpfungsbericht darauf, dass die Gesamtheit der Schöpfung sehr gut und geordnet ist. Und hoffen können wir als Christen, dass das verheissene Reich Gottes kommen wird: nämlich so, dass Gott auch den Verlorenen noch suchen und finden wird – auch wenn ich dieser wäre.

Adrian Müller

Der 43jährige Kapuziner studierte in Rom Medienpädagogik. Er schloss seine Studien mit dem Doktorat in Theologie ab.