Mission: ein Segen für die Menschen

Unter dem Titel «Weltkirche und Mission im Kontext der Globalisierung» hielt Hadwig Ana Maria Müller, Freiburg i.Br. einen Vortrag bei der Missionstagung der Missionskonferenz 9. Mai in Luzern. Hier ein Abschnitt.

2. Mission dient dem Leben.

Im Kontext der Globalisierung kann sich die Weltkirche dank ihrer eigenen Pluralität Menschen heute nähern und sie auf ihren verschiedenen Wegen stärkend und tröstend begleiten.

a) Mission heisst Sendung.

Die Sendung gilt der Wiederherstellung des Segens, der ursprünglich auf dem Leben liegt. Es geht also zuerst um das konkrete Leben. Und dann erst um die Kirche als Gemeinschaft von Menschen, die dem Leben ähnlich dienen, wie Jesus es getan hat.

Das grundlegende Ziel der Mission geben die Worte Jesu wieder: «Ich bin gekommen, damit alle das Leben haben, und damit sie es in Fülle haben.» (Joh 10,10) Jesus nimmt hier das Anfangsprojekt des Schöpfers wieder auf. Am Anfang schuf Gott das Leben (Gen 1,26-27), und sofort fügte er den Segen hinzu (Gen 1,28). Er schuf das Leben, damit es gesegnet sei. Das Leben sehr vieler Menschen heute ist aber alles andere als gesegnet. Eher lastet ein Fluch darauf (Gen 3,14-19). An allzu vielen Orten der Erde ist das geschaffene Leben in Gefahr, ausgelöscht zu werden: Durch ein mörderisches System, das mit angemasster Herrschaft und Menschen verachtender Gier nach Geld und Macht das Vertrauen in eine Ordnung des Zusammenlebens erstickt.

Dem Anfang gemäss, vom Willen Gottes her, soll jedes Leben jedoch gesegnetes Leben sein. Daher ist das grundlegende Ziel christlicher Mission, dem Leben der Menschen zu dienen, damit es aufs Neue gesegnetes Leben, Leben in Fülle sei.

Die Sendung zu dieser Mission erfolgt durch einen Ruf. Und die erste Person, die einen Ruf empfängt, der erste Missionar also, ist Gott selbst. Diese überraschende Entdeckung verdanke ich dem aus den Niederlanden stammenden brasilianischen Bibeltheologen Carlos Mesters. Die Berufung Gottes erfolgt durch den Klageschrei des Volkes. Das Buch Exodus sagt, dass das Volk zu Gott rief. Zu ihm stieg der Klageruf der Hebräer aus der Tiefe ihrer Versklavung auf. Und Gott hörte den Ruf seines Volkes. Er antwortete auf seinen Ruf, indem er seinerseits Moses rief und ihn sandte, das Volk zu befreien (vgl. Ex 3,9-10). Die Mission des Moses, die Mission der Propheten, die Mission Christi schliesslich und aller, die ihm nachfolgen, offenbart und bestätigt das Hören Gottes auf den Klageruf der Unterdrückten.

Das Leben jedes Menschen soll ein Leben in Fülle sein. Voraussetzung für die Erfüllung dieser Mission ist es, zu hören, sich rufen und in Bewegung bringen zu lassen. Sich anrühren zu lassen, wo die elende Lage eines Menschen oder Volkes zum Himmel schreit. Bei Christinnen und Christen soll daher die Empfänglichkeit, die Fähigkeit zu hören und in Mitleidenschaft zu geraten, aber auch die Fähigkeit, Schönes zu sehen und sich davon beschenken zu lassen, noch besser entwickelt sein als die Fähigkeit, Pläne zu machen, Ziele zu setzen und Vorgehensweisen festzulegen. Mission wird zwar zuerst immer als ein Handeln, als eine der zu leistenden Aufgaben der Kirche gesehen. Grundlegend ist Mission aber ein Empfangen. Ein Leben in der durch Christus geschenkten «Freude des Evangeliums» und eine Bekundung dieses neuen Lebens für die Welt. Dankbar empfängt die Kirche das Evangelium, die Botschaft von dem auf dem Leben liegenden Segen, der ihm durch nichts genommen werden kann. Sie bekennt und feiert dieses Geschenk und macht es so für andere erkennbar.

Der Vorrang der Empfänglichkeit bedeutet in unserer heutigen Situation, dass es nicht zuerst darum geht, kirchendistanzierten und sich selbst für ungläubig haltenden Menschen Gott nahe zu bringen und Christus zu verkünden. Vielmehr gilt es, gerade im Kontext der neuen religiösen Pluralität, wie wir sie eben beschrieben haben, Zeichen dafür zu entdecken, dass Gott in den fragenden und suchenden Menschen heute bereits da ist und auf ihren Wegen gefunden werden kann. Solche Zeichen sind: wesentliche Fragen, persönliche Suche und echte Beziehungen.

  • In einer Gesellschaft, die immer ratloser wird und immer mehr auseinanderbricht, halten sich viele Menschen nicht mehr mit Randfragen auf. Ihre Frage gilt dem Leben selber. Ein französischer Bischof war erschüttert angesichts der Fragen, die ihm Jugendliche vor der Firmung stellten: „Wozu eigentlich leben? Warum soll man sich nicht den Tod geben? Wie kann man das Leben lieben, wenn es hart und ungerecht ist? Wem kann man vertrauen, wenn man lieben möchte? Wieso soll man dem Leben anderer dienen, wenn diese uns gar nicht verstehen?“ Glauben heisst hier zuerst Vertrauen, Vertrauen, dass es sich lohnt zu leben. In diesem Vertrauen verlangen Menschen nach Heilung und Versöhnung – ganz ähnlich wie all die Frauen und Männer in den Evangelien, die Jesus von Nazareth bitten, dass er ihnen zu einem Mehr an Leben verhilft.
  • In einer immer mobileren Gesellschaft, die immer grössere Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, zugleich aber einen eigenen Stand von den Menschen verlangt, suchen diese die Bezugspunkte, die ihre Existenz ausrichten, auch gerade in einer Religion und im christlichen Glauben, ohne sich dabei allerdings in der eigenen Freiheit einschränken und von einer Institution auf eine Form des Glaubens festgelegen zu lassen. Eine solche persönliche Suche in immer neuen Gesprächen und Begegnungen gehört nun in die Mitte dessen, was die Bibel an Figuren wie Abraham und Jakob, Moses und Elia, Jeremias und Hosea bis zu Paulus als Glauben bezeugt.
  • In einer Gesellschaft, in der vor allem jüngere Menschen immer mehr unter Druck stehen, die Ausrichtung für ihr Leben sich selbst zu eigen zu machen, gewinnen freie, selbst gewählte und echte Beziehungen an Bedeutung. Je mehr Einzelne den Glauben, durch den sie sich identifizieren, selbst bestimmen, desto mehr streben sie danach, diese Erfahrung mit anderen, die ähnliche geistliche Neigungen haben, auszutauschen. Das Wichtigste an diesem Austausch ist, dass er echt ist, eigenes Erleben mitteilt, die Beteiligten berührt und ihre Freiheit achtet. Der christliche Glaube nun kann ohne solche freien und echten Beziehungen gar nicht gelebt werden. Denn er gilt einem Gott, der lebendige, Leben stiftende und Leben heilende Gemeinschaft ist, und gibt Anteil am Leben dieses Gottes. Wenn Christen sich vom Verlangen ihrer Zeitgenossen nach echten und tragfähigen Beziehungen leiten lassen, sind sie schon bei dem, was Mission ausmacht: Verlangen nach Beziehung zum Fremden ist, zum Menschen und zu Gott.

b) Mission ist Verlangen nach Beziehung zum Fremden.

Missionarisch zu sein heisst für die Kirche, zu anderen, zum Fremden, zu sagen „Du fehlst mir“. Nicht wie jemand, der Bereicherung sucht, sondern wie ein Liebender.

Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde Mission als die Aktivität einzelner, dazu besonders berufener und dafür vorbereiteter Menschen verstanden, die der Seelenrettung derjenigen diente, die als Nicht-Christen und Ungläubige eingestuft wurden. Dieses Verständnis von Mission ist seit dem Konzil hinfällig. Es sind nicht mehr die Adressaten, die ein kirchliches Handeln als missionarisch qualifizieren lassen, weil sie keinen christlichen Glauben haben. Ein anderes Kriterium ist an die Stelle getreten, seitdem Mission theologisch begründet wurde. Mission hat ihren Ursprung in dem Gott, der sich nach christlichem Glauben als ein in Beziehungen lebender Gott offenbart: Lebendig in der nicht still stehenden Bewegung der Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Geist und lebendig in dem immer neu Menschen suchenden Verlangen nach Beziehung zum anderen, der nicht Gott ist. Mit ihrem Ursprung in diesem Gott kann christliche Mission wesentlich als Verlangen verstanden werden, zum Fremden – zum anderen Menschen und zu Gott – in Beziehung zu treten. Beides gehört zusammen: Im Licht der Beziehung zu einem Menschen danach verlangen, in Beziehung zu Gott zu treten, und im Licht der Beziehung zu Gott danach verlangen, in Beziehung zu anderen Menschen zu treten. Dieses Verlangen lässt sich daran erkennen, wie sehr Einzelne oder auch Gruppen, Gemeinden und ganze Kirchen aus sich herausgehen und sich anderen mit dem aussetzen, was ihre ureigene Wahrheit ist. Und wie sehr sie sich durch das Anderssein anderer herausfordern und sogar verändern lassen.

Tatsache ist, dass der – oder die – andere immer schon vor mir da ist. Wenn ich meine, eine Beziehung zu beginnen, indem ich auf jemanden zugehe, so trifft doch genauso zu,

dass die Beziehung vom anderen ausgeht, weil mich etwas in ihm – oder ihr – bewogen hat, auf ihn – oder auf sie – zuzugehen. Das Verlangen nach Beziehung beginnt damit, aus sich herauszugehen. Papst Franziskus wird nicht müde, davon zu sprechen. Aus sich herauszugehen, heisst aber zugleich: Sich vom Geheimnis des anderen locken zu lassen, sich ihm – oder ihr – mit dem eigenen Geheimnis auszusetzen. Alles beginnt tatsächlich mit der Empfänglichkeit, die nicht nur passiv ist, sondern aktive Zustimmung, sich durch das, was wir sehen und hören, in Bewegung bringen zu lassen. Diese Dynamik werde ich jetzt in den Begriffen einer Beziehung zwischen Einzelnen beschreiben. Sie gilt aber entsprechend für die Beziehung zwischen Kollektiven wie Gemeinden und Kirchen.

Aus sich herausgehen. Ich bleibe nicht bei mir: nicht bei meinen mitgebrachten Vorstellungen, nicht in den Grenzen der mir vertrauten Welt. Ich gebe mein vermeintliches Wissen auf, mein Bild vom anderen, auch mein Bild von „unserem“ Gott! Ich verlasse gewohnte Wege. Erst wenn ich mich dabei als bedürftig erfahre, trete ich aus mir heraus. Ich lasse mich von meiner Bedürftigkeit öffnen. Der andere fehlt mir, wie mir ein geliebter Mensch fehlt!

Sich vom Anderssein der oder des anderen herausfordern lassen. Das Anderssein eines Menschen begegnet mir zuerst in seinem Gesicht: Das Gesicht des anderen ist wie ein Licht, das vieles zum Vorschein bringt und noch mehr verbirgt. Die Augen, die mich ansehen, in die ich blicke, lassen gerade so viel vom Geheimnis des anderen erahnen, dass es mich vielleicht lockt, mehr zu erfahren. Aber es enthüllt sich mir so wenig, wie ich von mir selber endgültig weiss, wer ich bin. Das ist die Herausforderung bei der Begegnung mit einem anderen: Dass ich mich an dem Unterschied zwischen uns freue, auch und gerade wenn das Echo dieses Unterschieds in mir als Frage bleibt.

Dem oder der anderen das Eigene aussetzen. Das Eigene ist nicht zuerst etwas, was ich mitbringe: eine Botschaft, ein Wissen oder Können. Das Eigene – das bin zuallererst ich selber, das Geheimnis, das mir im fragenden Blick des anderen begegnet und von dem ich nur einen Bruchteil weiss. Wer bin ich? Welche Beziehungen prägen mich? Welche Suche führt mich zum anderen? In tausend Facetten kommt hier meine Einzigartigkeit ins Spiel, der Beitrag zur Schöpfung, den nur ich leisten kann und niemand an meiner Stelle. «Meine» Wahrheit – die aber insofern gar nicht nur „meine“ ist, als sie sich mir erst in der Begegnung mit einem anderen offenbart.

Zulassen, dass mich der oder die andere verändert. Die Veränderung hat schon in dem Moment begonnen, in dem ich aus mir herausgehe, weil mich im Angesicht des anderen etwas herausfordert. In diesem Augenblick bin ich schon dabei, eine andere zu werden – oder einfach: zu werden! Diese Veränderung, die entsprechend für den anderen gilt, bringt unsere Unterschiedlichkeit nicht zum Verschwinden, im Gegenteil. Die Beziehung zum anderen eröffnet mir einen neuen Zugang zu meiner Einzigartigkeit und führt so zu einer Vertiefung dessen, was mich unterscheidet Dieses Neuentdecken der eigenen Wahrheit verbindet mich zugleich mit dem anderen.

Als Verlangen nach Beziehung zum Fremden, zum anderen Menschen und zu Gott, ist Mission nicht nur Suche nach Menschen, die wir gern von unserer Sache überzeugen wollen, sondern auch und gerade Suche nach Gott. Es geht darum, Gott dort zu entdecken, wo er eine Sprache spricht, die wir noch zu entdecken und zu lernen haben, um sie zu verstehen.

Christen sind – so sagt der Dominikaner Timothy Radcliffe auf dynamische, strahlende Weise unvollständig, weil Gott für sie immer auch der Unbegreifliche und Unbekannte bleibt.

Abschliessend möchte ich nun noch kurz eine Haltung andeuten, die all die vielen einzelnen Menschen und Gruppen, die in der Mission der Weltkirche unterwegs sind, verbindet.