Mut-Jahre

1096 Tage auf Wanderschaft

Ein einzelner «Mut-Anfall» genügt nicht. An mindestens 1096 Tagen sind eine gehörige Portion Ausdauer und Abenteuerlust erforderlich, wenn der Leimentaler Sebastian Rüde seine sieben Sachen in ein Tuch wickelt und als Wandergeselle auf die Walz geht.

Strammen Schrittes und in voller Wandergesellen-Montur kommt Sebastian Rüde im elterlichen Wohnhaus die Treppe hinunter. Er lächelt und setzt sich aufs Sofa, gespannt der Dinge, die da kommen werden. Vorerst sind es bloss die neugierigen Fragen der Journalistin, die er geduldig und mit einem Schalk in den Augen beantwortet.

Bald darauf, am 4. Januar 2009, gilt es  ernst: Der bald einundzwanzigjährige Baschy, wie ihn seine Freunde nennen, wird das Hintere Leimental, unmittelbar an der französischen Grenze, verlassen und als Wandergeselle irgendwo unterwegs sein. Mindestens drei Jahre und ein Tag müssen es sein, will Sebastian die Gesellenprüfung bestehen und als «Einheimischer» in die Zunft aufgenommen werden.

DieAnlaufstelle

Sind 1096 Tage auf der Walz nicht eine sehr lange Zeit? Sebastian nimmt es gelassen, erzählt, dass die meisten Wandergesellen nicht «pünktlich» nach Hause kämen. «Viele sind vier oder fünf Jahre unterwegs und manch einer bleibt noch länger in der Fremde. Ich selber habe gerade die Rekrutenschule hinter mir. Ich meldete mich vorsichtshalber für vier Jahre beim Militär ab.» Etwas heimisch fühlt sich Sebastian bei den «Rechtschaffenden Fremden.» So heisst die Zunft, der Baschy angehört. Im Basler Restaurant Rebhus treffen sich an jedem letzten Samstag im Monat die «rechtschaffenden» Wandergesellen, solche, die zurzeit unterwegs sind, oder solche, die früher die Welt bereisten. Man tauscht untereinander Erfahrungen aus und – ganz wichtig – Fremdgeschriebene, also solche die auf der Walz sind, bekommen dort bei ihrer Ankunft etwas zu essen und zu trinken, der Herbergsvater ist die erste Anlaufstelle in der Fremde. Er hilft bei der Arbeits- und  Unterkunftssuche. In der Schweiz gibt es eine Handvoll Zunftherbergen,  Krüge genannt. Sebastian kennt die Herbergslisten auch im nahen Ausland. Die Krüge und die Zünfte als Netzwerke, die zuversichtlich stimmen? «Ja», sagt Sebastian, «trotzdem habe ich mir das Ganze reiflich überlegt. Ich habe mich nicht abschrecken lassen von Kollegen, die zwar verstehen, dass ich mich beruflich weiterbilden will, aber halt nicht in dieser traditionellen Form als Wandergeselle auf der Walz. Und erst recht nicht in dieser Kluft.»

Die Ehrbarkeit

Tatsächlich mahnen der schwarze Hut mit breiter Krempe («er darf nur zum Essen und Schlafen abgelegt werden»), die weiten Schlaghosen aus schwarzem, dickem Manchesterstoff, das Gilet und das kragenlose, weisse Hemd, die so genannte Staude, an Kleider aus dem Fundus einer  Theatergarderobe. Sebastians Kleider sind jedoch nigelnagelneu,  eine Massanfertigung einer deutschen Schneiderei. Neckisch, fast luxuriös wirkt die schwarze Krawatte. Der Jungwanderer korrigiert mit seinem schelmischen Lachen: «Das ist keine Krawatte, sondern die so  genannte Ehrbarkeit; dazu gehört die Stecknadel, die mich als Zimmermann kennzeichnet.» Aha. Auf der Walz wird er in der  Öffentlichkeit immer seine Kluft tragen, er wird stets sauber und gepflegt unterwegs sein, sind doch die Gesellen in der Fremde angewiesen auf die Unterstützung der Bevölkerung, zum Beispiel bei der Suche nach Arbeit oder einem Schlafplatz. «Ein Wandergeselle muss sich immer ehrbar und zünftig verhalten, damit  auch der Nächste gern gesehen wird.»

Die Charlottenburger

Eine zweite Kluft zum Arbeiten wird der junge Zimmermann mittragen, etwas Unterwäsche, Socken, ein oder zwei Stauden, einen Schlafsack, Waschzeug, Stift und Notizbuch, vielleicht eine Landkarte, ein wenig persönlichen Kleinkram, das Wanderbuch, um seine Arbeits- und Aufenthaltsorte mit einem Stempel zu versehen.

Das ganz Hab und Gut wird in zwei, drei Charlottenburger eingewickelt. Charlottenburger? «So heissen die Tücher, die an den Enden verknüpft und mit Lederriemen um die Schultern getragen werden.» Aha. Plastiksäcke seien deplaciert, sie machten keinen seriösen, ehrbaren Eindruck.

Und wie ist es mit dem Mobiltelefon, heute fast jedermanns Begleiter? «Handys sind verboten», sagt Sebastian, «also nehme ich keines mit.» Kürzlich war der Leimentaler dabei, als ein Jungwanderer, also ein Neuling auf der Walz, beim Verlassen seines Dorfes sein Handy an einen Baumstamm genagelt hat. Immerhin ist ein Fotoapparat erlaubt, ein Geschenk, das Sebastian von seinem Vater erhalten hat. Wird der junge Zimmermann von seiner Walz brav Briefe an seine Familie und Freunde schicken? Baschy setzt sein spitzbübisches Lächeln auf: «Ja, ja, doch heutzutage schreibt man bekanntlich elektronische Briefe!»

Die Vorschriften

Welche Vorschriften muss Sebastian noch erfüllen, bevor er als zukünftiger Wandergeselle am 4. Januar 2009 von anderen Reisenden seiner Rechtschaffenden Zunft zu Hause abgeholt, in die Dorfbeizen begleitet und schliesslich unter Anteilnahme der Bevölkerung zum Dorfausgang begleitet und in seine Freiheit als Reisender geschickt werden kann?

Sebastian hat die Lehrabschlussprüfung mit Erfolg bestanden, in seinem Fall als Zimmermann, er ist Mitglied der Gewerkschaft UNIA, er ist weder vorbestraft noch hat er Schulden, er ist ledig und hat keine Kinder. Er hat die Rekrutenschule hinter sich. Krankenkasse-Prämien wird er auch bezahlen. Es gibt nämlich tatsächlich Kassen, die eigene Tarife für Wandergesellen anbieten. Und – ganz wichtig – während seiner ganzen Reisezeit darf Sebastian seinem Heimatort nie näher als 50 Kilometer kommen. Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel wären Todesfälle oder schwere Krankheitsfälle in der Familie. Nur dann darf ein Geselle nach Hause reisen und so lange dort bleiben, wie es nötig ist.

Berühmte Wandergesellen

Es existieren unterschiedliche Zünfte, auch Schächte genannt. Neben dem alten, traditionellen Schacht der «Rechtschaffenden Fremden», dem Sebastian angehört, gibt es zum Beispiel noch die «Rolandsbrüder» oder die Zunft mit dem Namen «Fremder Freiheitsschacht.» Ein hoher Prozentsatz aller Wandergesellen sind Zimmermannsleute. Allgemein zu wenig bekannt ist, dass auch andere Berufsleute auf die Walz gehen, zum Beispiel Maurer, Dachdecker, Spengler, Buchbinder, Goldschmiede oder Instrumentenbauer.

Gehen eigentlich auch Frauen als Gesellinnen drei Jahre auf die Strasse? Ja, meint Sebastian. Heutzutage würden mehr Frauen in Berufen arbeiten, die früher traditionell Männerberufe waren. Dementsprechend gebe es auch immer mehr Frauen auf Wanderschaft, vielleicht etwa 2 bis 3 Prozent aller Reisenden. Genaue Zahlen kenne er nicht. Die Frauen könnten aber nicht Mitglied bei den «Rechtschaffenden Zimmerer» sein, sondern nur beim «Fremden Freiheitsschacht »; möglich wäre natürlich auch, als Freireisende auf der Walz zu sein. Alle Zünfte sind in der europäischen Gesellenzunft, der CCEG, zusammengeschlossen. Die Dachorganisation der europäischen Gesellenzünfte besitzt sogar ein teilnehmendes Statut im Europarat in Strassburg. Die CCEG veranstaltet alle fünf Jahre ein Europatreffen, 1998 fand dieses in der Schweiz statt. Übrigens gab es auch Wandergesellen mit ganz berühmten Namen: Zum Beispiel Adolf Kolping, der Gründer des Kolpingwerkes, war als Schuhmacher auf der Walz. Und der ehemalige DDR-Politiker Walter Ulbricht ging drei Jahre als Tischler auf die Strasse.

Die Weiterbildung

Wie viele junge Menschen sind eigentlich gegenwärtig auf der Walz? Sebastian legt seine Stirne in Falten: «Das weiss man nicht so genau, vielleicht 300–400 weltweit.» In seinem ehemaligen Lehrbetrieb hätten zwei Gesellen temporär gearbeitet und sein früherer «Mitstift» sei jetzt bereits seit einem Jahr unterwegs. Üblich sei, dass man zwei bis drei  Monate am gleichen Ort tätig sei, zwingend sei aber nicht, dass man auf dem gelernten Beruf arbeite.

Für Sebastian ist die Walz ein wichtiger Grund, um beruflich weiter zu kommen. Da es verboten ist, länger als sechs Monate am gleichen Standort zu bleiben, wird der junge Zimmermann in der Fremde viele neue Betriebe, viele neue Systeme und Bauarten kennen lernen.

Vorgeschrieben ist, dass der Wanderbursche das erste Jahr im deutschsprachigen Raum arbeitet. «Später zieht es mich vielleicht in den hohen Norden.» Sehr verlockend ist für Sebastian, dass er selbst bestimmen kann, wann, wo und wie lange er etwas Neues lernen möchte.

Diese Freiheitsgedanken haben Sebastian dazu verleitet, die gewaltigen Mut-Sprünge zu wagen. Trotz vieler Bedingungen, nicht zuletzt, dass man nur zu Fuss oder per Anhalter unterwegs sein darf, glaubt er, dass für ihn als Ausgereister die  Wanderjahre zu den abwechslungsreichsten seines Lebens gehören werden. Und wenn sich Baschy – frühestens in drei Jahren und einem Tag – bei seiner Zunft in Basel wieder «einheimisch meldet», werden sich Eltern und Geschwister sehr freuen und die Dorfbevölkerung im Hinteren Leimental wird ihm, zusammen mit früheren Reisekameraden, bestimmt einen grossartigen Empfang bereiten.

Lydia Guyer-Bucher


Auf der Walz

sr. Das Interview mit Sebastian fand im November 2008 statt; kurz nachdem er durch die Zunft «eingebunden » worden war. In der Zwischenzeit ist Baschy einige Monate unterwegs. Am 4. Januar 2009, bei bissiger Kälte, wurde er von rund 25 Zimmermännern und vielen Freunden und Bekannten und seiner Familie gebührlich verabschiedet und die Reise ins Ungewisse konnte beginnen. In der ersten Zeit trampte er zusammen mit seinem Wanderkamerad Phillip (die Schreibweise stimmt so) in Deutschland rum, bis sie in der Nähe von Trier in einer kleinen Zimmerei für drei Monate Arbeit erhielten. Nach einem Besuch bei ihm dürfen wir feststellen, dass es Baschy auf der Walz sehr gefällt, dass er schon viele gute Begegnungen und interessante Erlebnisse hatte. Vor allem sind Spass und Humor seine treuen Wegbegleiter. Aber es gab auch ernste Momente wie einen Todesfall unter den Kameraden. Dann war die grosse Zunftfamilie eindrücklich spürbar. Ja – so eine Walz ist Lebensschule pur!