Kopfüber

Die neue Idee einer «Spielgruppe»

«Man sollte» geht einem leicht über die Lippen. Aber meistens will niemand tun, was «man» sollte. Unsere Autorin hatte damals den Mut, ihre vor 30 Jahren noch ungewöhnliche Idee zu verwirklichen.

1979: Unser Sohn Andreas ist vier Jahre alt. Er bringt eine Einladung mit. Nächste Woche sind wir zu einer Diskussion im Kindergarten eingeladen. Ich gehe allein. Es wäre mir lieber gewesen, mein Mann wäre mitgekommen. Ich fühle mich immer unsicher, wenn er nicht dabei ist. Irgendwie komme ich mir immer dumm vor.

Es geht an diesem Abend um das Problem der vielen fremdsprachigen Kinder sowohl im Kindergarten wie auch in der Schule. Die meisten in unserem Dorf Perlen arbeiten in der Papierfabrik. Es wurden viele Fremdarbeiter eingestellt. Ihre Frauen und Kinder leben auch hier. Viele der Frauen arbeiten ebenfalls in der Fabrik. Ihre Kinder werden tagsüber von Pflegemüttern betreut. Diese sind in fast allen Fällen ebenfalls fremdsprachig. Keines der Kinder kann Deutsch. Der Schweizer Anteil im Kindergarten und in der Schule beträgt nicht einmal 20%.

Etwas Blödes gesagt?

Was ist zu tun? Es wird heiss diskutiert. Ich denke nach. Beteilige mich nicht an der Diskussion. Man müsste doch – und dann sage ich es – die Kinder schon vor dem Kindergarten erfassen. Stille. Ich denke: habe ich wieder mal etwas Blödes gesagt, werde rot und schäme mich. Doch – gute Idee! So heisst es. Bloss, wer soll das machen?

Ein paar Monate später: Ich bekomme  ein Telefon. Ich hätte da doch einmal so eine Idee gehabt. Wie wäre es, wenn ich das übernehmen würde? Ich bin ziemlich überrumpelt und sage weder Ja noch Nein. Ich soll es mir mal überlegen.

Wenig später ruft der Direktor der Papierfabrik an. Die Gemeinde habe den Verantwortlichen der Fabrik nahe gelegt, dass sie, wenn sie schon nicht deutschsprachige Arbeiter mit ihren Familien in die Schweiz holen, sie auch für die Probleme zuständig wären, die sich daraus ergeben.

Ich hätte doch gesagt … Und ob ich denn nicht … Ich hätte die vollste Unterstützung der Papierfabrik. Eine finanzielle Beteiligung bei meinen Ausgaben wäre gesichert. Ein kleine Anerkennung in Form eines noch zu bestimmenden Lohnes ebenfalls.

Ich kann nicht Nein sagen. Traue mich nicht. Ich bekomme einen Raum zugewiesen. Die Familien werden angewiesen, die Kinder ab drei Jahren zu mir in die Spielgruppe zu schicken. Der Begriff «Spielgruppe» ist neu. Die Idee zur Einrichtung von Spielgruppen steckt erst in den  Kinderschuhen. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas davon gehört. Ich richte den Raum ein. Kaufe Spielsachen. Vieles mache ich selbst oder mein Mann, der mich darin voll unterstützt. Die Spielgruppe ist nur für fremdsprachige Kinder gedacht.

Ich fange an

Am ersten Tag warte ich vor dem Gebäude. 12 Kinder treffen ein, zum Teil mit Mutter und Vater. Verständigungsschwierigkeiten auf beiden Seiten. Die Eltern gehen. Ich bleibe mit 12 Kindern zurück. Keines kann ein Wort Deutsch. Ich kann weder Spanisch noch Italienisch noch Jugoslawisch und Polnisch auch nicht.

Was mache ich? Ich weiss es nicht. Ich fange einfach an. Irgendwie geht es, sogar die Sache wie dem Klo. Die Kinder sind eher schüchtern. Mit den Spielsachen gehen sie zögerlich um. Später werde ich erfahren, dass viele der Kinder nicht spielen können, Spielsachen ihnen fremd sind. Die ersten zwei Stunden sind vorbeigegangen. Am Ende verabschieden wir uns. Die Kinder werden abgeholt.

Allmählich gewöhnen wir uns aneinander, die Kinder werden zutraulicher. Wir lachen viel. Zwischendurch schreien wir alle mal nach Herzenslust. Es hört uns ja niemand. Wir machen wilde Spiele, es wird herumgetobt. Aber es geht auch leise zu. Ich bringe vieles von zu Hause mit, um es miteinander anzuschauen, ich rede viel, erkläre. Irgendwie scheint die Sprachbarriere nicht vorhanden zu sein. Ein kleiner Junge redet ein halbes Jahr kein einziges Wort (ich weiss, dass er reden kann). Dann plötzlich macht er seinen Mund auf und redet perfekt Deutsch. Er ist später der erste «meiner» Kinder, die auf das Gymnasium gehen werden. Weniges in meinem Leben hat mich so stolz gemacht! Nach ein paar Monaten fragt mich eine Nachbarin, deren Kind behindert ist, ob es auch zu mir kommen dürfe. Ich habe keine Ahnung, wie das gehen wird. Aber ich sage Ja. Und es geht gut. Die Kinder nehmen es auf. Für sie scheint die Behinderung nicht zu existieren.

Gastfreundlich

Ich lerne von den Kindern. Ich mache Hausbesuche, will wissen, wie diese Kinder aufwachsen. Ich werde gastfreundlich aufgenommen. Zwei Dinge sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Das eine: In einer türkischen Familie werde ich herein gebeten. Ich muss mich setzen. Dann kommt die Mutter des Kindes auf mich zu und nimmt meine Hände. Sie hat ein angewärmtes duftendes Tuch in ihren Händen. Damit streicht sie über meine. Dies geschieht alles ohne Worte. Ich bin tief berührt.

Das zweite: Ich komme zu einer Pflegemutter, die Kinder aus mehreren Nationen betreut. Alle Kinder – darunter sind auch ganz kleine – sitzen vor dem Fernseher und schauen ein Video an. Es ist ein Horrorfilm. Blut fliesst in Strömen, abgetrennte Körperteile liegen herum. Die Kinder finden es lustig. Ich nicht.

Ich lerne begreifen, warum viele Kinder nicht spielen können. Warum viele von ihnen noch nie einen Buntstift in der Hand hatten. Manche kennen keine Tischmanieren. (Es gibt eine Essenspause während der zwei Stunden). Sie haben bis dahin noch nie eine Gabel oder ein Messer benutzt. Also üben wir. Ich lerne Schweizer Kinderlieder und bringe sie ihnen bei. Wir machen Ausflüge an den Bach. Wir spielen im Dreck. Ich muss den Eltern beibringen, dass sie ihren Kindern nicht die besten Sachen für die Spielgruppe anziehen.

Das Jahr geht vorbei. Dreimal in der Woche sind die Kinder zu mir gekommen. Ja, es hat sich gelohnt. Im kommenden Jahr möchte ich, dass auch deutschsprachige Kinder zu mir kommen können. Kinder lernen von anderen Kindern am meisten. Ich habe die Spielgruppe fünf Jahre lang geleitet. Manchmal denke ich mit Wehmut daran.

Wie einfach ist es, Barrieren zu überwinden, wenn man ein Kind ist? Warum verlernen wir es später so oft wieder?

Anke Maggauer-Kirsche