Palmsonntag: Einzug in Jerusalem

Der Einzug Jesu in Jerusalem wird mit dem Prophetenwort in Verbindung gebracht: „Sagt der Tochter Zion: Siehe dein König kommt zu dir.“ (Sach 9,9) Schon zu Beginn des Matthäusevangeliums steht die Frage: „Wo ist der neugeborene König der Juden?“

Nun nähert sich Jesus der Stadt Jerusalem. Viele Leute begleiten ihn und rufen: „Hosanna dem Sohn Davids!“ Dieser Ruf verrät die alte Sehnsucht der Menschen nach einem neuen König David. Einst hat David alle Feinde Israels besiegt. Nun soll der erwartete Messias kommen, der das Volk von der Fremdherrschaft der Römer befreit. Die Menschenmassen huldigen Jesus mit Palmzweigen wie einem siegreichen König. Sie sehen in ihm das, was sie sehen wollen. Aber sie haben nicht genau hingesehen. Jesus kommt auf einer Eselin, dem Tier der armen Leute.

Von einem Esel wurde er als kleines Kind nach Ägypten getragen. Seit damals hat er sich nicht „verbessert“ und ist nicht aufgestiegen. Er bleibt auf der Seite der Armen, der Kleinen und Schwachen, der Ausgegrenzten, der Schuldigen  und Kranken. Das ist seine Sendung. Bald werden jene, die jetzt Hosanna rufen, sich von ihm abwenden. Er entspricht nicht ihren Erwartungen.

Erst recht wenden sich die Mächtigen gegen ihn. Von ihnen hat er sich selber schon immer abgesetzt. Seine Worte sind bekannt. „Die feingekleideten Leute finden sich in den Palästen der Könige“. „Die Herrscher unterdrücken die Völker, und die Mächtigen missbrauchen ihre Macht.“ Und weiter sagt er: „Ihr werdet um meinetwillen vor Statthalter und Könige geführt werden.“ Zuerst wird Jesus selber vor die Hohepriester, vor Herodes und Pilatus geführt. Ihr Urteil führt ihn zur Kreuzigung. Tiefer geht es für einen Menschen nicht. Abgründig ist die Tiefe, in die Gott  mit Jesus hinabsteigt. Der Hymnus aus dem Philipperbrief (2,6-11), der in der Palmsonntagsliturgie vorgetragen wird, beschreibt diesen Abstieg. Es ist der Weg der Liebe, die sich den Letzten, den Verlorenen zuwendet. Jesus geht diesen Weg mit allen Konsequenzen. Er wird verraten und ausgeliefert. Wehrlos teilt er das Los der untersten Menschenschicht, um mit dem Menschen zu sein und ihn emporzuheben.

Der Weg Jesu, der nach unten geht, ist der Weg des Gehorsams, der Hingabe und der Liebe. Das ist schwer zu fassen. Es ist für manche eine Zumutung. Wie vermag ich zu glauben, dass dies die Geschichte Gottes mit den Menschen ist? Wie ist es möglich, alles, was hier geschehen ist, als eine Geschichte der Liebe zu verstehen? Gewiss gibt es Andeutungen und Spuren, mit denen ich ein Stück weiter komme. Glaube kann ich nicht machen. Aber wenn ich die Geschichte Jesu lese und lese, mich darin vertiefe, habe ich eine Chance. Wo finde ich mich selber darin?

Jesus ist seinen Weg gegangen. Der Philipperhymnus schliesst mit den Worten: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der grösser ist als alle Namen.


Raphael Grolimund

Raphael Grolimund, Kapuziner, Kloster Wesemlin, Luzern. Tätig als katholischer Priester in der Seelsorge und in der geistlichen Begleitung von Schwesterngemeinschaften und Exerzitiengruppen.