Wenn körperliche Nähe geschenkt wird

Hunger nach Zuwendung und Zärtlichkeit

Vertrauliche und intime Körperberührungen, die sonst nur nahestehenden und geliebten Menschen zugestanden werden, akzeptieren wir in gewissen Fällen stillschweigend. Ärzte und Pfleger, Masseure und Friseure können nicht behandeln, ohne ihren Patienten, Klienten, Kunden die Hand aufzulegen.

Bei einer ärztlichen Untersuchung, in der Therapie, in Situationen, in denen wir einen Teil unserer Selbstständigkeit aufgeben müssen, versuchen wir unsere Gefühle unter Verschluss zu halten, nicht zu reagieren und entstehende Nähe zu ignorieren. Indem wir die Berufsberührer als «Unpersonen» betrachten und die Kontaktnahme als funktionalen Vorgang werten, wird wieder ein gewisser Schutzraum hergestellt.

Nähe und Distanz

Diese Kontakte lösen Reize aus. Das ist unvermeidlich. Es liegt in der Natur des Reizkontaktes, dass sich dadurch Vertraulichkeit einstellen und entsprechende Gespräche entwickeln können. Will man sie vermeiden, so muss man von vornherein auf einen sehr sachbezogenen Blickkontakt achten. Sonst ist der Berufsberührer irritiert, weil unser Verhalten gegen seine Erfahrung spricht und er ja nur professionelle Aufgaben erfüllt. Andererseits wird der Berufsberührer, ohne es zu wollen, leicht zum Opfer eines «legitimen Seitensprungs ».

Denn Menschen, die unter einem Mangel an Zärtlichkeit und vertraulichen Kontakten leiden, deren Bedürfnis nach Zuwendung und Berührung unerfüllt bleibt, suchen begreiflicherweise dieses Verlangen zu kompensieren. Einsame und alte Menschen gehen ganz gerne zum Arzt – häufiger als notwendig wäre –, um sich ihm anzuvertrauen. Frauen, die sich «vernachlässigt fühlen», finden öfter den Weg in einen Kosmetiksalon oder zum Friseur. Sie holen und erhalten dort ein wenig von der zarten Berührung und Anerkennung, die sie vermissen. Auch Gymnastik, Tanz, Theaterspiel und Sport gewähren durch körperliche Berührung Hautkontakt und Gefühle der Geborgenheit, ohne moralische Grenzen zu verletzen.

Ungeschriebene Gesetze

Der Mensch fühlt sich nicht wohl, wenn ihm körperliche Nähe vorenthalten wird. Er leidet im Stillen an diesem krank machenden Mangel. Frostige Umgangsformen, die körperliche Berührungenerschwerenodertabuisieren, unterbinden auch das Aufkeimen menschlicher Wärme.

Wir kommunizieren miteinander immer gleichzeitig auf zwei Ebenen – einer rationellen und einer emotionellen. Es genügt nicht, wenn nur eine Ebene angesprochen wird – weder für die Verständigung untereinander noch für die Befriedigung unseres individuellen Bedürfnisses nach Interaktion. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Allerdings achtet er auch darauf, dass seine Unversehrtheit, sein Territorium gewahrt bleibt. Nur wenige dürfen dessen Grenzen überschreiten.

Sprache des Körpers

Fremde Menschen berühren wir mit den Händen eigentlich nur, um ihnen eine Gefälligkeit oder Hilfe zu erweisen: Wir geleiten eine alte Dame über die Strasse, helfen einem Kind auf die Beine usw. Diese Zweckberührung respektiert das körperliche Tabu und ist frei von anderen Bedeutungen.

Nur bei vertrauten Menschen durchbrechen wir diese natürliche Distanz, um Kontakt aufzunehmen und Nähe zu gewinnen. Man legt ihnen den Arm mit einer schützenden Geste um die Schulter, um Freundschaft oder Fürsorge zu zeigen. Legt man den Arm um den Hals des Partners oder eines Kindes, so deutet das auf die Dominanz des einen (die sehr freundlich gemeint und dennoch unmissverständlich ist) und Unterordnung und Hingabe des anderen, der damit jedoch seinen verletzlichen Hals freigeben muss.

Bei Berührungen des Kopfes ist ein besonders hohes Mass an Vertrauen die Voraussetzung. Denn der Berührte setzt dabei einen wichtigen Körperteil mit allen sensiblen Partien dem anderen aus. Das Streicheln von Kopf und Wangen, die Berührung von Augen und Lippen, das Anlehnen des Kopfes an die Schulter: Diese Aussagen haben viele Nuancen, vom Trost bis hin zur Zärtlichkeit. Doch immer bezeugen sie eine grosse Intimität der Beziehung.

Unverkrampfte Berührungen

Die Grenzen der Intimität sind in unseren Breiten recht eng gezogen. In den meisten Ländern des Mittelmeeres und des Orients hat man zu Berührungen ein viel freieres, weniger ängstliches und verkrampftes Verhältnis. Die Menschen berühren einander gerne und häufig, um Vertrauen und Sympathie zu zeigen, sie nutzen die Ausdrucksmöglichkeiten ihres Körpers viel selbstverständlicher.

Auch unter Männern sind in diesen Ländern Gesten der Zuneigung und Freundschaft üblich, herzliche Umarmungen und innige Berührungen, die man in Mitteleuropa nur als erotische Signale gelten lässt und darum sehr schnell missversteht. Zieht sich jemand davor zurück, so wird das von Südländern leicht «Berufsberührern» wie Pflegepersonal oder Bedienungspersonal wird das Eindringen in unsere streng geschützte Intimzone gestattet. als persönliche Ablehnung ausgelegt, die gar nicht beabsichtigt war.

Ruf nach Nähe

«Berufsberührern» wie Pflegepersonal oder Bedienungspersonal wird das Eindringen in unsere streng geschützte Intimzone gestattet. Um dennoch Distanz zu wahren und intime Kontakte zu vermeiden, werden die Gefühlsregungen abgestellt und die Berührung einfach ignoriert. Doch darüber hinaus weisen kleine Gesten auf die Not einer Seele hin und den tiefen Wunsch nach Berührung und Zärtlichkeit.

Wenn der Ruf nach Wärme und die Angst vor Berührung sich aufzuheben scheinen, verrät vielleicht eine Handbewegung, dass der Wunsch nach vertrauensvoller Nähe doch stärker ist. Eine Gratwanderung also, die in der Betreuung ein hohes Mass an Sensibilität voraussetzt.

Traude Scagliola