Wenn Fremde nicht bedrohliche Feinde sind

Die Fremden als Feinde und als Bedrohung für die eigene Lebensweise: Viele Politiker machen mit dieser Sicht Jagd auf Stimmen. Doch christlich ist eine solche Vorstellung nicht. Vor allem auch franziskanisch betrachtet sind alle Menschen miteinander verbunden. Die Welt würde ganz anders aussehen, wenn die Andersartigkeit als Bereicherung empfunden würde.

«Die Brüder des Papstes töten Christen!» So titelte ein wütender Kommentator in einem Internetforum, als Papst Franziskus vor dem Ramadan «unseren muslimischen Geschwistern» ein heilsames Fasten wünschte. Auch andere empörte Katholiken distanzierten sich vehement vom Segenswunsch an die islamische Welt.
Offensichtlich stramme Gläubige grenzen ab und aus. Aggressive Katholiken, die sich der geistig militanten Strömung der «Katholiban» zuordnen lassen, wollen nichts mit Andersgläubigen zu tun haben – und schon gar nicht mit Muslimen verwandt sein. Der zitierte Kommentator grenzt sich ebenso deutlich vom Papst selbst ab, dem er Grenzüberschreitungen und eine gefährliche Verbrüderung vorwirft.

Terror weckt Aggressionen
Angesichts des grässlichen Dschihad der IS-«Gotteskrieger» im Nahen Osten und seit den Terroranschlägen von Islamisten in Paris kommt auch gut integrierten Muslimen vielerorts in Europa Misstrauen entgegen. Der Terror von Fundamentalisten weckt Aggressionen in der eigenen Lebenswelt und trifft auch die Friedfertigsten.
Dieselben Steine, die Brücken bilden können, werden für Mauerbau und Steinwürfe verwendet. «Wo es Mauern gibt, ist das Herz verschlossen. Wir brauchen Brücken, keine Mauern!», sagte der Papst zur Feier des Mauerfalls in Berlin am 9. November 2014 und richtete den Aufruf an die heutige Welt.

Verbundenheit oder Abgrenzung?
Wer ist mir Bruder und Schwester – über die eigene Familie hinaus? Mit wem verbindet mich mein Menschsein als solches? Und mit wem verbinden mich mein Glaube und letztlich Gott selbst, der mit uns Menschen die Welt und ihre Geschichte gemeinsam gestaltet? Wie gehe ich mit der Andersartigkeit um, die Kulturen und Rassen trennen. Wie sollen Nationen und Religionen bei allen Unterschieden zusammenspielen? Vor wem grenze ich mich ab, vorschnell oder zu Recht?
Oder anders gefragt: Werden Menschen menschlicher, wenn sie sich von Menschen abgrenzen? Und finden Religiöse die Liebe Gottes, wenn sie achtlos oder verächtlich an Menschen vorbeigehen, die Gott lieb sind?

Christlich-jüdische Wurzeln
Mit einem Blick in die Geschichte spüren wir hier der Vision einer geschwisterlichen Menschheit nach und suchen die eben gestellten Fragen aus biblisch-franziskanischer Sicht zu beantworten.
Gänzlich unreligiös hat die Französische Revolution «Geschwisterlichkeit» aller Menschen verkündet. Die Menschenrechte wurzeln in ihrer «déclaration des droits de l’homme» von 1789. Der Kampf des bürgerlichen Dritten Standes für «liberté, égalité, fraternité / Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» greift allerdings weit tiefer jüdisch-christliche Werte auf, als den Revolutionären bewusst war.

Solidarität in Israel
Das Alte Testament, noch deutlich vom Stammesdenken der archaischen Zeit geprägt, ruft Israel auf, seine Solidarität über die eigenen politischen und religiösen Grenzen auszudehnen. Damit sein Leben im Land Kanaan gelingt, erhält Israel vom Bundesgott die Weisung, nicht nur ans Wohl der Sippe und des eigenen Volkes zu denken: Wer immer sozial gefährdet ist – Witwen, Waisen und Fremde – soll solidarische Sorge finden, wie sie Israel, unterdrückt in Ägypten, von Gott selbst erfahren hat.
Propheten wie Micha und Jesaja weiten den Horizont über das eigene Volk hinaus: Erkennt die Menschheit, dass sie unterwegs zum gleichen Endziel ist, nämlich Gottes Fest für alle Menschen, werden alle Völker «Schwerter zu Pflugscharen und Lanzen zu Winzermessern schmieden». Gemeinsam oder aus unterschiedlichen Richtungen unterwegs ins verbindende Fest Gottes, werden Abgrenzungen sinnlos und untergraben Feindseligkeiten den Weg zum Glück, das uns und allen zugesagt ist.

Die neue Familie Jesu
Jesus gibt der Verbundenheit über nationale Schranken hinweg familiäre Farben: «Ihr alle seid Geschwister – Töchter und Söhne des einen Vaters im Himmel.» Diese Botschaft soll «die Grenzen der Erde» erreichen. Wer immer sich auf den Abba einlässt, «ob Jude oder Grieche», wird unabhängig von seiner Herkunft in Gottes neue Familie aufgenommen. Die Taufe schafft aus Menschen aller Völker Töchter und Söhne Gottes.
Der frühchristliche Autor Tertullian beschreibt um 200 n. Chr. eine zweifache Geschwisterlichkeit: Die eine gründet universal in derselben Mutter Erde, die andere greift tiefer und verbindet im Glauben an denselben Vater. Der leidenschaftliche PR-Mann schreibt im nordafrikanischen Karthago an die Adresse der Christenverfolger: «Was unsere Bezeichnung Bruder und Schwester angeht, so sind wir sogar auch eure Geschwister, weil die Natur uns allen gemeinsame Mutter ist – auch euch schlechten Brüdern. Bezeichnen und verhalten sich da nicht diejenigen mit noch mehr Recht als Brüder und Schwestern, die Gott als ihren einen Vater erkannt, den einen Heiligen Geist aufgenommen und staunend aus dem Dunkel des Irrtums in das eine Licht der Wahrheit getreten sind? … Und so haben wir, in Geist und Seele innig verbunden, kein Bedenken, auch unsere Güter zu teilen. Alles ist bei uns gemeinschaftlich – ausgenommen die Frauen.»

Rundbriefe aus Assisi
Franz von Assisi schreibt 600 Jahre vor der Französischen Revolution brüderliche Rundbriefe «an alle Menschen auf Erden». Kein Kaiser und kein Papst in Mittelalter und Neuzeit weiteten den eigenen Blick auf die Menschheit derart beherzt.
Franziskus selbst hat seine universale Hoffnung schrittweise geöffnet. Als Kaufmann lag ihm die Freiheit seiner Stadt am Herzen. Ihm waren bereits die Bauern vor den Toren fremd. Als Aussteiger lernte er das Leben der sozial Randständigen teilen. Als neuer Apostel in den Fussspuren Jesu gründete er eine Bewegung, in der Gefährten aus vielen Schichten, Gegenden und Ländern einander Brüder wurden.
Mit Klaras Aufbruch kamen Schwestern hinzu. Gemeinsam lernten sie, jedem Menschen geschwisterlich zu begegnen. Erfahrungen mit Sultan al-Kâmil in Ägypten liessen Franziskus staunend erfahren, dass es Gottesliebe auch ausserhalb des Christentums gibt. Die Frucht davon sind Rundbriefe des Bruders an alle Menschen, die dazu aufrufen, überall auf Erden Gottes Liebe miteinander verbunden zu erwidern.

Gleichheit nur für Brüder
Auch die Französische Revolution nannte die Verbundenheit aller Menschen fraternité/Brüderlichkeit. Politisch sprach sie jedoch liberté/Freiheit und égalité/Gleichheit nur den Männern zu. «Schwestern», welche gleiche Rechte forderten, landeten auf dem Schafott. Anderen Nationen wurde die revolutionäre Freiheit mit Waffengewalt verordnet.
Der Sozialismus radikalisierte bürgerliche «Geschwisterlichkeit» zur internationalen Solidarität der Arbeiterklasse, die vereint eine klassenlose Gesellschaft erkämpfen soll. Die Sozialethik der Kirchen bezweifelt seit Leo XIII. und bis heute, dass sich eine gerechtere Welt mit Gewalt erkämpfen lässt.

Treffen der Religionen in Assisi
Nicht zufällig versammeln sich die Welt- und Naturreligionen nicht in Paris, sondern in Assisi, um gemeinsam für den Frieden unter allen Nationen zu beten. Sie taten es erstmals 1986 auf Einladung Johannes Pauls II. und seither wiederholt
Benedikt XVI. wählte für das Treffen von 2011 ein Motto, das alle Religionen und suchenden Menschen verbindet: «Pilgernde zu Wahrheit und Frieden», unterwegs an das allen gemeinsame und alle verbindende Ziel. Die Bilder der Propheten vom grossen Fest Gottes und die Gleichnisse vom Königsmahl, das Menschen auch von Hecken und Zäunen einlädt, werden wach.

Papst Franziskus
Papst Franziskus berührt und bewegt weltweit, indem er für fraternitas/Geschwisterlichkeit und libertas/Freiheit aller Menschen einsteht: nicht bürgerlich-neoliberal, nicht klassenkämpferisch, sondern aus einer zutiefst biblischen Sicht, in der sich Mystik und Politik untrennbar verbinden: Niemand findet Gott, der achtlos an Menschen vorbeigeht, die sich – ob Freund oder Fremder – als Geschwister erweisen.
Die Delegationen von 300 Kirchen, Welt- und Naturreligionen haben dies 2011 in Assisi ökumenisch gesagt: Keine Religion und keine Nation besitzt den Frieden und die Wahrheit. Wir alle pilgern gemeinsam zu tieferer Erkenntnis und Solidarität.

Wer ist Bruder/Schwester?
Wer ist mir also Bruder und Schwester – über die eigene Familie hinaus? Aus der Sicht des Apostels Paulus jeder Mensch, dem Gottes Liebe ins Herz geschrieben ist und der weltweit ins «Reich Gottes» finden soll. Mit wem verbindet mich mein Menschsein als solches? In der Überzeugung der Frühen Kirche mit jedem Menschen, der auf unserer Mutter Erde lebt.
Mit wem verbinden mich mein Glaube und letztlich Gott selbst, der mit uns Menschen die Welt und ihre Geschichte gemeinsam gestaltet? In der Sicht der Schöpfungsberichte mit allen Nachkommen Noahs, die bereits im ersten Bund Jahwes mit jedem Menschen und Tier vereint sind.

Fremde als Liebenswerte
Wie gehe ich mit der Andersartigkeit um, die Kulturen und Rassen trennen? Mit dem Vertrauen des Franz von Assisi, der im Fremden nicht das Bedrohliche sieht, sondern das Liebevolle und Liebenswerte erkennt: sei es in Subkulturen der eigenen Stadt, sei es in Randständigen der eigenen Gesellschaft, sei es in Menschen anderer Sprache, anderer Rasse, anderen Glaubens.
Und wie sollen Nationen und Religionen bei allen Unterschieden zusammenspielen? Im Wissen, dass uns Tieferes verbindet, als das, was an vordergründigen Interessen und Überzeugungen trennt.

Die Räuber als Brüder
Vor wem grenze ich mich ab, vorschnell oder zu Recht? Franz von Assisi tadelt einen Bruder, der mitten in winterlichen Bergen hungernde Räuber empört in den Schnee zurückschickt. Er sendet ihn mit Brot und Wein hinterher, um der Not der Herzlosen nicht herzlos, sondern brüderlich zu begegnen – und bewirkt, dass drei dieser Räuber tief bewegt selber in die Bruderschaft eintreten, wo sie lernen, jedem Menschen geschwisterlich zu begegnen.
Werden Menschen menschlicher, wenn sie sich von Menschen abgrenzen? Und finden Religiöse die Liebe Gott, wenn sie achtlos oder verächtlich an Menschen vorbeigehen, die Gott lieb sind? Die Antwort auf die letzten zwei Fragen kann nur das eigene Leben geben.

Niklaus Kuster