Wenn ich aufbrechen muss

Persönliche Erinnerungen

«Aufbrechen» war in unserer äusserst sesshaften Familie fast ein Fremdwort. Es berührt mich noch heute seltsam, wenn von der mangelnden «Reisefreiheit» in der ehemaligen DDR gesprochen wird. Wir hatten zwar Reisefreiheit, aber – wie damals viele andere Familien – kaum Reisemöglichkeiten. Ein paar wenige Male fuhren wir im Auto eines Bekannten zu einem 20, höchstens 50 Kilometer entfernten Wallfahrtsort. Ebenso selten besuchten wir auswärtige Verwandte. Dass wars dann schon.

Ein Schiff nach Hongkong

Anders als meine Eltern wurde ich in jenen Jahren von der Sehnsucht nach der Ferne geplagt. Darum gingen mir die Seemannsschlager von Freddy Quinn so zu Herzen. Wie oft fuhr ich mit ihm in Gedanken in einem weissen Schiff nach Hongkong …

Gleichzeitig wurde mir etwas bang beim Gedanken, von Zuhause aufbrechen zu müssen. In der Primarschule gabs damals ein beliebtes, heute würden wir sagen, kitschiges Lied: Ein Mann, der fortmuss, dreht sich «am Waldesrand, beim moosgen Stein» (oder so ähnlich) nochmals um und winkt seinen Lieben. Wie würde es mir zumute sein, wenn es für mich soweit sein würde?

Nun, als ich mit 17 Jahren ins Internat aufbrach, hielt sich der Abschiedsschmerz in Grenzen. In drei Monaten würde es ja ohnehin Ferien geben! Etwas «definitiver» wurde vier Jahre später der Aufbruch ins Noviziat. Vieles hatte sich damit geändert – sogar mein Name. Mit Blick auf den Ordensnamen, der einem am Anfang des Einführungsjahres verpasst wurde, sagte ich meiner Mutter beim Adressieren meines (einzigen!) Koffers für den Postversand: «Ich weiss nicht einmal, welchen Namen ich haben werde, wenn ich ihn in Luzern wieder in Empfang nehme.»

Brutale Aufbrüche

Beim Ordenseintritt musste ich mit zahlreichen Ortsveränderungen rechnen. Damals war es noch üblich, dass jeder Kapuziner nach spätestens drei Jahren in ein anderes Kloster abkommandiert wurde. «Mutationen» nannte und nennt man dies im ordenseigenen Jargon. Die Sache war so bekannt, dass der Volksmund für sie ein Sprichwort erfand: «An Mariae Geburt fliegen die Spatzen und die Kapuziner furt.» (Der Termin der Mutationen war der 8. September.)

Noch heute erzählen ältere Mitbrüder vom Schrecken solcher aufgezwungener Aufbrüche. Ohne dass sie vorgewarnt worden waren, fand sich ihr Name auf der Mutations-Liste. Sobald diese im Kloster eingetroffen war, rief der Hausobere die Brüder mit einem Glockenzeichen in den Speisesaal, um die Entscheidungen der Obrigkeit zu verkünden. Wenn die Obern einmal auf individuelle Wünsche eingingen, war es fast ein Wunder. Denn die Mutationen waren ein Übungsfeld zur Erprobung des Gehorsams.

Bei den Ordensfrauen war die Art der Mutationen noch härter, ja fast brutal. Bevor sie in ihre jährlichen Exerzitien verreisten, mussten sie ihren Koffer packen, damit sie allenfalls ohne Zeitverlust an ihren neuen Wirkungsort aufbrechen konnten.

Schwere Abschiede

Als ich am 1. September 1966 ins Noviziat eintrat, konnte ich nicht wissen, dass wenige Wochen zuvor die Tradition der unabgesprochenen Mutationen ihr Ende gefunden hatte. Die Ordensleitung hatte mit den Kandidaten für die Versetzungen in andere Klöster so intensive Telefonate geführt, dass die PTT meinte, der aussergewöhnlich hohen Telefonrechnung läge ein Irrtum zugrunde. Seither müssen wir im Orden gewöhnlich nur dann aufbrechen, wenn die Notwendigkeit dazu besteht; zum Beispiel, wenn ein Kloster einen neuen Hausobern, Koch oder Pförtner braucht.

Aufbrüche sind viel seltener geworden. Aber nicht unbedingt leichter. Um wieder auf persönliche Erinnerungen zurückzukommen: Während meines Zweitstudiums hatte ich im anregenden studentischen Milieu von Freiburg i. Ue. mich so wohl gefühlt, dass ich am liebsten in dieser faszinierenden Stadt geblieben wäre. Ich musste jedoch jüngern Mitbrüdern Platz machen. Schweren Herzens bereitete ich den Abschied vor. Als der Beamte auf der Einwohnerkontrolle mich beim Abmelden fragte: «Vous quittez Fribourg/Sie verlassen Freiburg?», wurde ich sehr traurig.

Stabil und dennoch mobil

Dies war Ende 1977. Seither lebe ich immer am gleichen Ort, in Luzern; oder auch nicht. Als ich zehn Jahre hier war, meinte ein lieber Mitbruder spöttisch: «Jetzt bist du fünf Jahre bei uns. Die Hälfte der Zeit warst du ja fort.»

Der Mitbruder hat – wie es seine Art ist! – leicht übertrieben. Aber ich musste/durfte/ konnte tatsächlich oft «in die weite, ferne Welt» aufbrechen: als Berichterstatter an internationale Konferenzen (davon fast zehn Mal nach Rom zu Bischofssynoden) und in den Süden der Erde, um als Redaktor der Eine-Welt-Zeitschrift a Material zu sammeln. Übrigens, ich war noch nie in Hongkong. Ich hatte bereits diesbezügliche Reisepläne gemacht, mir sogar einen Reiseführer gekauft, musste aber kurzfristig umdisponieren.

«Aber dann …»

In Freddys Lied vom weissen Schiff mit Destination Hongkong heisst es: «Aber dann in weiter Ferne hat man Sehnsucht nach zu Haus.» Irgendwann kommt der Zeitpunkt, in die umgekehrte Richtung aufzubrechen. Trotz einem Quäntchen «Sehnsucht nach zu Haus» fällt mir das Aufbrechen nicht immer leicht.

Da war ich drei, vier Wochen mit lieben Menschen zusammen. Wir hatten, wie ein Modewort lautet, «es miteinander gut gehabt». Und müssen Abschied nehmen. Vielfach gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach kein Wiedersehen. Da fällt mir jeweils das Wort ein, das mir ein weiser welscher Mitbruder in Freiburg auf den Weg mitgab: «Partir, c’est mourir un peu.» Ja, aufbrechen kann ein wenig dem Sterben gleichen.

Walter Ludin