Konflikte und Streit sind in allen menschlichen Beziehungen unausweichlich. Muss man sich nach Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikten in alle Zeiten bekriegen? Oder gibt es faire Weisen der Konfliktbewältigung?

 Wenn Menschen einander begegnen, gehören Konflikte zum Alltag. Wir könnten darüber reden, aber meistens tun wir es nicht. Die schlimmste Form von Konflikten erleben wir im Krieg.

Nichtverstehen
Im Umgang mit anderen Menschen nehme ich verbale und nonverbale Sinneseindrücke auf. Diese Wahrnehmung hängt davon ab, wie ich mich zu diesem Zeitpunkt fühle. Sie kann deshalb nicht objektiv sein. Dabei nehme ich unbewusst wahr, was mir wichtig ist. Auf Grund meiner bis dahin gemachten Lebenserfahrungen male ich mir automatisch ein Bild. Ich bewerte die Situation und ordne sie ein. Daran sind auch Fantasien beteiligt.

Entscheidend ist, dass ich mir bewusst bin: Ich habe diese Wahrnehmung. Sie ist für mich Realität. Jeder Mensch hat wie ich seine eigene Realität. Je besser ich einen Menschen kenne, je besser meine Beziehung zu ihm ist, desto deutlicher und klarer kann meine Wahrnehmung von ihm sein. Eine gute (bewusste) Beobachtung hilft mir, mehr wahrzunehmen. Es bleibt jedoch immer, auch wenn ich einen Menschen noch so gut kenne, ein Rest Unwissenheit, ein Rest Nichtverstehen.

Erledigt sich nicht von selbst
Wir sehen: Wenn zwei oder mehr Menschen miteinander in Bezug treten, treffen unterschiedliche Bezugsrahmen, Wahrnehmungen und Interessen aufeinander. Dies führt naturgemäss zu Konflikten.

Diese sind nicht zu übersehen. Auch wenn wir sie zu ignorieren versuchen, wir nehmen sie wahr. Ein Konflikt, der nicht bearbeitet wird, bleibt erhalten; selbst über Jahre. Es ist eine irrige Meinung, er würde sich sozusagen von selbst erledigen, wenn man ihn ignoriert oder lange genug wartet. Auch wenn der eigentliche «Anlass» vergessen wurde, die begleitenden Gefühle bleiben erhalten. Nur so ist es zu erklären, dass aus einem nichtigen Anlass plötzlich ein Konflikt entsteht, der in keinem Verhältnis dazu steht.

Erfahrungen aus der Kindheit
Ein Konflikt löst in mir ungute Gefühle aus. Ich fühle mich «nicht wohl in meiner Haut», bin unsicher; habe Angst, möchte am liebsten davonlaufen, selbst wenn ich eine gute Beziehung zu meinem Konfliktpartner habe. Meistens kommt noch dazu, dass ich mich über mich selbst ärgere. Ich wäre gerne «anders», eben nicht unsicher, ängstlich …

Diese unguten Gefühle kommen weitgehend – aber nicht nur – aus meiner Kindheit, aus den Erfahrungen, die ich dort mit dem Umgang mit Konflikten gesammelt habe. Als Kind durfte ich meinen Eltern nie widersprechen. Meine eigene Meinung war nicht gefragt. Wenn ich es doch einmal wagte, musste ich mit Sanktionen rechnen, z.B. mit Schlägen.

Das heisst im Alltag, der nie ganz frei von meinen/unseren Fehlern sein kann: Ich habe Angst vor möglichen Folgen: Der andere könnte böse sein auf mich, mich schneiden, mich nicht mehr gernhaben. Diese Angst kann durchaus dazu führen, dass ich nun erst recht Fehler mache, weil ich unsicher, nervös werde, was wiederum zu neuen Konflikten führt.

Angst führt in jedem Fall zu vermehrten Konflikten. Sie erschwert es mir, mich den anstehenden Konflikten zu stellen. Ich kann dadurch in eine Abwehrhaltung geraten, die sich eventuell in aggressivem Verhalten äussert.

Verwirrungen und Missverständnisse
Wir fragen gewöhnlich: «Hast du mich verstanden?» Anstatt: «Was hast du verstanden?» Auch wenn ich der Meinung bin, ich hätte mich klar ausgedrückt, kann ich missverstanden werden.

Ich kann nicht voraussetzen, das ich verstanden werde. Mein Gegenüber hört mit seinem Ohr, d.h. er hört das, was er verstehen kann und will. Ich kann einem Menschen, der noch nie Schnee gesehen hat, erklären, was Schnee ist. Trotzdem wird er nicht annähernd denselben Worthintergrund haben wie ich, die ich den Schnee kenne. (Das Wort Schnee hat in der Wüste keinen Klang.) Gleiche Erfahrungen, der gleiche Hintergrund erleichtern uns also die Verständigung. Bei Menschen, die sich vertrauen, kommt es seltener zu Missverständnissen.

Nicht richtig zuhören
Viele Missverständnisse entstehen dadurch, dass wir nicht richtig zuhören. Unter richtig verstehe ich ein aktives, bewusstes Zuhören. Es kommt dabei auf meine innere Haltung an. Wenn ich den anderen wertschätze, kann mir das, was er mir mit seinen Worten mitteilen will, nicht gleichgültig sein. Wenn ich auf diese Weise zuhöre, ergibt es sich von selbst, dass ich nachfrage, wenn ich etwas nicht verstanden habe oder weil mich das Thema interessiert.

Im Allgemeinen machen wir uns keine oder wenig Gedanken darüber, wie und in welcher Form wir miteinander reden. Das Ganze läuft «automatisch» ab. Wird der Ablauf gestört, wenn uns z.B. etwas verunsichert, wird auch der Wortfindungsprozess gestört. Uns fallen dann die richtigen Worte nicht ein, auch wenn sie vorhanden wären.

Spiel mit Maske
Wir neigen dazu, uns in ein besonders gutes Licht zu stellen. Wir spielen sozusagen ein Spiel und halten uns dabei eine Maske vor. Diese ist unser Schutz. Sie verhindert manchmal leider auch, dass wir besser verstanden werden. Diese Beziehungsebene spielt bei jedem Gespräch eine wesentliche Rolle. Sie beeinflusst meine Haltung beim Sprechen, die Wortwahl, die Tonlage und die Lautstärke.

Wenn wir miteinander in Beziehung treten, findet neben der Sprache auch eine Verständigung ohne Worte statt. Die wortlose Kommunikation hat einen grösseren Einfluss darauf, wie wir miteinander reden, als wir gemeinhin meinen. Wir erkennen an der Haltung, am Schritt, am Gesichtsausdruck, an der Tonlage der Stimme, in welcher Stimmung sich unser Gegenüber befindet.

Wir haben im Laufe unseres Lebens gelernt, diese Zeichen zu deuten. Das schliesst jedoch eine Fehlinterpretation nicht aus. Bei Menschen, die sich sehr gut kennen, kommt es dabei weniger häufig zu Missverständnissen. Doch bei sich fremden Kulturen können die daraus entstehenden Missverständnisse gravierende negative Folgen haben.

Konflikt erfolgreich gelöst
Wenn ich einen Konflikt erfolgreich gelöst habe, heisst dies nicht, dass ich nun perfekt im Konfliktlösen bin. Jeder Konflikt stellt eine Herausforderung dar. Ich muss mich jedes Mal wieder neu darauf einlassen. Manchmal muss ich auch einsehen, dass es mir trotz aller Bemühungen nicht gelingt, den Konflikt zu lösen. Wenn ich jedoch eine Konfliktlösung als positiv erlebt habe, bin ich eher dazu bereit, einen neuen Konflikt anzugehen. Und auch hier gilt: Übung macht den Meister.

Anke Maggauer-Kirsche


Mein Grossonkel
WLu. Ein älterer Herr musste mich wegen einer Sachfrage kontaktieren. Er weigerte sich, mit mir Kontakt aufzunehmen und schob einen Mittelsmann vor. Denn: «Mit dem L. spreche ich nicht. Sein Grossonkel hat meinen Vater beleidigt!»

Mag ja sein. Aber ich habe meinen Grossonkel seligen Angedenkens nie gesehen. Und da sollte ich «haftbar» gemacht werden für seine Taten!

Berührung ist der soziale Kitt zwischen zwei Menschen. Fällt die Berührung weg, wird es schwierig, weil das Anfassen durch nichts ersetzt werden kann. Oder doch?

 Ist es nicht schön, Menschen zu berühren? Und ebenso wichtig, von Menschen berührt zu werden? Wenn ich von einem Menschen (den ich mag) berührt werde, wird das im Zentralhirn gespeichert. Berühre ich mich selber, registriert mein Hirn dies bloss am Rande.

Was es mit dem Berühren auf sich hat, wird zu Zeiten des «Social Distancing» – wo Abstände staatlich vorgeschrieben und Begegnungen teils untersagt sind – zu einem ernsthaften Thema. Es wird mit unterschiedlichem Ergebnis diskutiert. Die einen Menschen fühlen sich eingeschränkt, die andern entdecken neue Freiheiten. Mich regt die Aussage von Martin Buber zum Nachdenken an: Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

 Abstand ist der neue Anstan
Wie aber sollen die Begegnungen stattfinden? Die Hand als Virenträgerin ist böse in Verruf gekommen. Die altbekannte, normierte Form der Begegnung, das gegenseitige Händeschütteln, fällt weg. Die Verunsicherung ist gross. Nun gilt die Devise: Abstand ist der neue Anstand.

Der bewusste Blick in die Augen ist eine besonders schöne Form der Begegnung. Einige begrüssen und verabschieden sich voneinander mit dem Faustgruss, auch Ghettofaust genannt. Alternativ wendet man mit «Namaste» eine ursprünglich indische Grussformel an, bei der die Hände vor der Brust geschlossen werden und eine Verneigung angedeutet wird. Diese Begrüssung mögen Kinder, weil sie etwas Theatralisches an sich hat. Sie wird auch von Männern und Frauen praktiziert, die früher Sanskrit und Yoga belächelten.

Berühren oder Schauen
Wir besuchen ein Kindermuseum. Dort sind Spielsachen in Vitrinen ausgestellt. Es ist eine Reise durch die letzten Jahrhunderte der Spielzeug- und Schulwelt. Für unsere Seniorinnengruppe ist es auch ein Ausflug in die eigene Vergangenheit. Während wir älteren Semester vor lauter Ah und Oh über die Puppenstuben, Schultaschen und altertümlich illustrierten Kinderbücher unsere Augen vor den Schaukästen fast plattdrücken, haben die Kinder im Primarschul- und Kindergartenalter Mühe, sich für die witzigen Puppen und Püppchen zu begeistern.

Kurz strecken sich die Buben und Mädchen im Raum mit den vielen Spiegeln die Zunge raus. Sie verbeugen sich und lachen über sich selber. Hier wie an allen Orten, wo man nichts anfassen darf, werden die kleinen Besucherinnen rasch ungeduldig. Dort hingegen, wo es erlaubt ist, etwas in die Hand zu nehmen, sind die Kleinen fast nicht mehr wegzubringen. So blühen die Kinder richtiggehend auf, als sie alte Kindertrachten befühlen und diese dann anziehen dürfen. Ist Berühren schöner als Anschauen?

Der früh entwickelte Sinn
Der Berührungsreiz ist der am frühesten entwickelte Sinn. Untersuchungen haben gezeigt, dass Embryos bereits ab der siebten Schwangerschaftswoche auf Berührungen reagieren. Wenn ihre Lippen berührt werden, weicht der Kopf zurück.

Kleine Kinderhände werden beim Besuch eines Grossverteilers, eines Shoppingcenters oder eines Museums mit einer Trinkflasche und einer Süssigkeit davon abgehalten, etwas zu berühren. Nichts berühren! Nur mit den Augen schauen! So mahnen die Eltern ihre Sprösslinge, wenn diese die Berge von Süssigkeiten, die Flaschen und Dekorgegenstände, die Skulpturen und Bilder anfassen wollen.

Zu Coronazeiten sind die Richtlinien für kleine Kinder noch einschränkender: Bitte die Nachbarin nicht berühren! Dem Onkel die Hand nicht geben, sich dem Grosspapa nicht auf den Schoss setzen und schon gar nicht die Grossmama knuddeln.

Helen Keller, die 1968 verstorbene taubblinde amerikanische Schriftstellerin hat in ihrem Buch: «Meine Welt» bemerkenswerte Aussagen zum Thema Berühren gemacht: «Die Welt, die ich mit meinen Fingern sehe, ist lebendig und farbenfroh. Warum nur stecken nichtblinde Menschen so oft ihre Hände in die Taschen? Ist das der Grund, warum ihr Wissen manchmal unbestimmt und ungenau ist? Wenn ich meine Hand an jemandes Kehle und Wange halte, erkenne ich, ob die Stimme tief oder hoch, traurig oder lustig ist. Eine dünne Stimme eines alten Menschen fühlt sich anders an als eine junge Stimme.»

Die intelligente Hand
Es wird behauptet, der Mensch sei das klügste aller Wesen, weil er Hände habe. Kein noch so ausgeklügelter Roboter könne die Intelligenz einer Hand errechnen. Trotzdem hat die Hand ihren guten Ruf eingebüsst. Und das nicht erst durch die jetzige Pandemie.

Es scheint, dass wir in einem Zeitalter der Handvergessenheit leben würden. Oder wie soll man die Tatsachen deuten, dass heute Akademiker höher eingeschätzt werden als Handwerker; dass eine Hebamme eine akademische Ausbildung haben sollte oder dass Fussballer zehnmal mehr verdienen als Handballer?

Wenn in früheren Jahrhunderten zwei Menschen zusammenkamen und sich die Hand schüttelten, war das der Beweis dafür, dass man in guter Absicht kam und keine Waffe mit sich trug. Ein Handschlag galt schon unseren Vorfahren als juristisch verbindlich. Und zwei verstrittene Parteien versöhnten sich per Handschlag.

Heutzutage wird viel von der öffentlichen und der privaten Hand gesprochen. Man kennt die Hand als Gebärdensprache für Hörbehinderte und Gehörlose. Mit Handzeichen kann man zeigen, dass man einer Gruppe angehört. Und bekanntlich hat die deutsche Sprache viele handfeste Redewendungen: Man lebt von der Hand in den Mund. Und wer sich stark fühlt, sagt, er mache das mit Links.

Pflanzen berühren
Dass neben Menschen auch Tiere Berührungen nicht kalt lassen, ist geläufig. Vergessen geht hingegen oft, dass selbst Pflanzen auf Berührungen ansprechen. So wurde bereits im 18. Jahrhundert in den USA die Entdeckung gemacht, dass es eine «wundersame» Pflanze gäbe, die auf Berührung reagiere. Die Blattinnenfläche der kleinen Pflanze sei mit winzigen Drüsen bedeckt, die einen süssen Saft absondere, von dem «arme» Tiere zu kosten versuchten. Sobald die Beine des Insekts die «sensiblen» Teile der Pflanze berühren, würden die Blatthälften blitzschnell zuklappen und jeder Fluchtversuch würde unweigerlich scheitern.

Die Geschichte der Venusfliegenfalle, wie die Pflanze heisst, ist auch deshalb interessant, weil die damaligen Wissenschafter der Meinung waren, alle Lebewesen stünden in einer Rangordnung und es sei deshalb unvorstellbar, bei einer «niedrigen» Pflanze von Berührung zu reden, schon gar nicht, dass eine Pflanze ein Tier töten könne.

Mittlerweile wissen die Biologen von über sechshundert Pflanzenarten, die auf Berührung antworten. So ist in den hiesigen botanischen Gärten öfters die Pflanze Rühr-mich-nicht-an anzutreffen. Berührt man mit den Fingern ihre Blätter, rollen sich diese zum «Schlafen» zusammen. Warum diese Schattenpflanze auch Altweiberzorn genannt wird, weiss ich nicht. Hingegen weiss ich mit Bestimmtheit, dass sich mein (menschlicher) Altweiberzorn vergrössert, wenn wir nicht alle achtsam bleiben, denn sonst verlernen wir langsam das Berühren von Menschen und Tieren, Pflanzen und Dingen.

Lydia Guyer-Bucher

Der Lebensbaum von Franziskus weist 44 Jahrringe auf. Ein allzu kurzes Leben? Erfüllung ist oft nicht an der Dauer zu messen. Was spiegeln uns die Jahrringe des Poverello? Gibt es Krisen? Welcher Art waren diese und wie hat der Heilige sie gemeistert?

Franz ist 16-jährig, als Assisi den deutschen Grafen davonjagt, seine Burg zerstört und eine demokratische Gemeindeordnung errichtet. Die Folge des Befreiungsschlags ist ein Bürgerkrieg, der den Adel ins Exil treibt und die Stadt zwölf Jahre lang spaltet.

Für den angehenden Kaufmann bedeutet diese politische Krise Aufbruch in eine neue Freiheit. Er ist eben in die wirtschaftlich führende Zunft der Stadt aufgenommen worden. Er wird bald einmal zum Festkönig der Jugend gewählt und hat beste Zukunftsaussichten. Auch moderne Krisen wie eine globale Pandemie kennen Verlierer und Gewinner.

Zerbrochene Träume
Franz zeigt mit 18 unbändigen Ehrgeiz. Es reicht ihm nicht, dass das Familienunternehmen in der Stadt fünf Häuser besitzt und seine Zunft nun auch die Politik bestimmt. Handelsreisen auf die Textilmärkte Frankreichs beflügeln die Träume des jungen Modeexperten. Er will Ritter werden und in den Adelsstand aufsteigen.

Mit kühnen Hoffnungen stürzt er sich in Assisis Kampf gegen die rivalisierende Stadt Perugia. Die Schlacht am Tiber wird zum Debakel. Franz sieht dem Tod ins Auge, verbringt ein Jahr in Kriegsgefangenschaft und erkrankt nach seiner Rückkehr schwer. Als er sich wieder aufrappelt, hat sein Kaufmannsleben den Geschmack verloren

Flucht vor sich selbst
Berichte seiner Gefährten deuten auf eine Depression und totalen Sinnverlust hin. Assisi hätte sich dem jungen Kaufmann und Eventmanager farblos gezeigt. Franz flieht zunächst aus der schockierenden Situation und will sich in ein neues militärisches Abenteuer stürzen.

Bereits nach einem Tagesritt verschenkt er Pferd, Rüstung und Waffen und kehrt zu Fuss nach Assisi zurück. Eine unruhige Nacht in Spoleto lässt ihn erkennen, dass er sich selbst davonläuft – und dass er im eigenen Alltag auf die Suche gehen muss.

Posttraumatisch wachsen
«Schreckliche Erlebnisse wie Krieg oder Krankheit können Menschen innerlich zerstören. Viele jedoch entwickeln eine neue Stärke. Posttraumatisches Wachstum nennen Forscher es, wenn nach Schicksalsschlägen eine neue Perspektive erwacht», schrieb Michaela Haas 2015 in der ZEIT.

Franziskus findet schrittweise zu neuer Kraft, Freiheit und Lebensfreude. Während sein Kaufmannsleben äusserlich normal weitergeht, führt ihn eine innere Suchbewegung in Neuland.

Entscheidend werden drei Schlüsselerfahrungen: Erstens, Franz geht öfter aus dem Alltagstreiben weg und vor die Stadt hinaus. Er schaut von aussen auf seine Lebensrealität. Auch heute helfen «Timeouts» und Rückzugszeiten zu neuer Orientierung.

Am Fuss des Stadthügels liegt das verlassene Priorat San Masseo. Die Stille der Krypta lässt Franz zu sich selber kommen, seine unverdauten Erfahrungen wahrnehmen und seine Sehnsucht in Worte fassen. Von Familie und Freunden unverstanden, wendet er sich – erstmalig – ganz persönlich an Gott: «Du, lichtvoll über allem, erleuchte das Dunkle in meinem Herzen…». Stille, zu sich selber finden und eine gute Selbstsorge ermöglichen erste Schritte aus der Sackgasse.

Die zweite Schlüsselerfahrung wird die Begegnung mit Aussätzigen: «Menschen im Elend weckten mein Herz», wird Franz später dazu schreiben. Neue Offenheit für das Du. Nicht ausgewählte Freunde wie an seinen Festen in Assisi, sondern der Nächste, der den eigenen Weg kreuzt, führt ihn weiter aus der Sackgasse.

Mystische Erfahrungen
Der dritte Schritt geschieht in San Damiano. Vor seiner Krise religiös gleichgültig, tastet der Suchende mit den dunklen Schatten aus Krieg, Kerker und Krankheit nach dem fernen «Licht der Welt». In einer zerfallenden Landkirche vor den Stadtmauern findet er eine Ikone, die ihn zutiefst bewegt:

Der scheinbar ferne Gott, der über der Welt thront, zeigt sich ihm menschlich und arm, halbnackt am Kreuz und zugleich auferstanden, mit offenen Augen, offenem Ohr und weit offenen Armen. Gottessohn, der sich selber den Gefahren der Welt aussetzte, und der auferstanden menschliche Wege mitgeht – glückliche wie schmerzliche.

Brüche im Leben
Franz kann sein bisheriges Leben nicht weiterführen. Er steigt aus. Sein Vater will den Junior mit Gewalt auf Kurs zurückbringen, sperrt ihn ein. Als er entwischt, zitiert er ihn vor Gericht. Franz schlüpft im bischöflichen Tribunal wie ein Schmetterling aus dem Kokon, gibt dem Vater die Kleider zurück und verlässt Assisi enterbt: nackt und frei. Ohne den Mut zum Bruch mit Familie, Zunft und Stadt wäre der Schmetterling in seinem engen Kokon zugrunde gegangen.

Es dauert daraufhin weitere zwei Jahre, bis der 26-Jährige seine neue Lebensaufgabe findet. Klarheit entsteht schrittweise. Franz pflegt zunächst Aussätzige, baut dann die zerfallende Landkirche San Damiano wieder auf, betrachtet die Ikone des armen Christus und erhofft sich von ihm einen gemeinsamen Weg.

Friedensarbeit
Im Frühjahr 1208 eröffnet sich ihm dieser Weg, an einem Apostelfest beim Anhören des Evangeliums. Wie Jesus seine Freunde in Galiläa durch die Dörfer und Städte sandte, um Menschenliebe zu wecken und Frieden zu bringen, so soll Franz es in der eigenen Zeit und Welt tun. Von tiefstem Glück über diesen Auftrag erfüllt, setzt er ihn sogleich um. Er kleidet sich in eine schlichte Kutte und wird Friedensarbeiter.

Bald schliessen sich ihm Gefährten an. «Niemand zeigte mir, was ich tun soll», schreibt er später darüber, «doch der Höchste selbst hat mir offenbart, dass wir nach dem Evangelium leben sollen.»

Die eigene Sendung weitet sich auf Gefährten aus. Sie gründen eine fraternitas, eine Bruderschaft, die verbindet, was die damalige Gesellschaft und Kirche schmerzlich trennt: Städter und Landleute, Adelige und Bürger, Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Priester und Laien.

Gemeinsam stellen sie sich den Konflikten der Zeit: familiären Krisen in den Häusern, in denen sie arbeiten; sozialem Ausgrenzen ganzer Menschengruppen; politischen Kämpfen; drohenden Bürgerkriegen.

Franz wagt es sogar, unter Lebensgefahr in den Fünften Kreuzzug einzugreifen. Er entdeckt den spirituellen Reichtum der islamischen Welt. In all diesen Erfahrungen wächst er innerlich, indem er sich äusseren und fremden Krisen stellt.

Krankheit
Die letzten Lebensjahre warten wieder mit eigenen Krisen auf: Die von ihm gegründete Bruderschaft wächst in die Tausende und durchläuft eine Wachstumskrise. Franz ist überfordert und tritt die Leitung ab. So schmerzlich dieser Rückzug ist, das Loslassen führt in eine neue Freiheit. Ähnliches erleben heute jene, die den Pensionierungsschock verarbeiten und mit freien Händen in eine neue Lebensphase aufbrechen.

Aus Ägypten hat Franz Malaria sowie eine Augen- und Milzkrankheit mitgebracht. Sie lassen ihn im Frühjahr 1225 durch körperlich und seelisch dunkelste Wochen gehen. Brüder, Klaras Schwestern und das Ringen mit Gott führen den Leidenden in neues Licht. Die Frucht davon ist der berühmte Sonnengesang. Seine Menschenstrophe lautet:

«Sei gepriesen, mein Gott, für jene, die in der Kraft deiner Liebe verzeihen und die Krankheit und seelischen Stress aushalten. Glücklich, deren innerer Friede Strapazen durchsteht. Denn du, Höchster, führst sie ins Glück.»

Niklaus Kuster

«Glauben heisst Nicht-Wissen», sagten mir schon viele Leute. Und sie haben in gewisser Weise recht: Glaube im religiösen Sinn ist etwas ganz und gar anderes als naturwissenschaftliches oder historisches Wissen. Er ist viel mehr …

 

Verantwortungsvoller, nicht-fundamentalistischer Glaube an Gott nimmt naturwissenschaftliches und historisches Wissen ernst. Er lässt sich davon befragen: Inwiefern stimmen naturwissenschaftliche und historische Erkenntnisse mit meiner Vorstellung der Menschen unserer Welt überein? Wo stellen sie mein Menschenbild und Gottesbild infrage?

Glaube muss sich verändern lassen
Glaube bleibt – nicht nur, aber auch – aufgrund des Dialogs mit den Wissenschaften ein lebenslanger Prozess. Wenn er lebendig sein will, muss sich Glaube immer wieder verändern, sich hinterfragen lassen. Dadurch kann er wachsen und tiefer werden.

Doch der Glaube bezieht sich nicht auf etwas, das wir beweisen, berechnen oder messen könnten. Wenn jemand meinte, Gottes «Existenz» beweisen oder widerlegen zu können, so wäre das, was «bewiesen» oder «widerlegt» würde, bestimmt nicht Gott. Denn es ist ja gerade das Kennzeichen von Glauben, dass er sich auf etwas bezieht, das uns Menschen und das Universum übersteigt und daher nicht beweisbar ist.

Glaube fragt daher nicht: Was kann ich wissen? Wie ist die Welt entstanden und wie funktioniert sie? Glaube fragt vielmehr: Was darf ich hoffen? Worauf kann ich vertrauen? Was gibt dem Leben Sinn?  So gesehen ist Glauben tatsächlich etwas ganz anderes als ein historisches oder naturwissenschaftliches Wissen. Einiges, was für mich Glauben heisst, werde ich im Folgenden beschreiben.

Glauben heisst staunen
Glauben heisst für mich zuallererst Staunen – Staunen darüber, dass es überhaupt ein Universum gibt: eine Welt mit ihren Sonnensystemen und ihren Amseln, eine Welt mit ihren schwarzen Löchern und ihren Blumen – ein Universum auch mit uns Menschen, auch mit mir ganz persönlich. Das alles ist nicht selbstverständlich. Es könnte ja auch einfach nichts sein.

Aus diesem Staunen heraus erwachsen Fragen: Warum gibt es das alles? Was bedeutet es, dass es ein Universum gibt, was bedeutet es für mich, für uns? Und zudem auch: Was bedeutet es, dass wir Menschen ein Ich-Bewusstsein haben und dass wir staunen können; über das Leben, über das Lachen und Spielen von Kindern, über die Schönheit von Blumen und Schmetterlingen?

Glauben heisst suchen
Wenn wir leben wollen, müssen wir nach genügend Nahrung, Schutz vor Kälte und Hitze usw. suchen, und wenn das Leben weitergehen soll, ebenso nach Fortpflanzungsmöglichkeiten. Es ist schon erstaunlich, dass dieses Leben-Wollen in uns Menschen und Tieren und allem Lebendigen irgendwie enthalten ist.

Noch erstaunlicher erscheint mir, dass wir Menschen gewöhnlich nicht nur nach dem Überlebensnotwendigen suchen, dass wir nicht einfach nur irgendwie leben oder überleben wollen. Wir suchen vielmehr nach einem glücklichen, echten Leben.

Noch weiter gehen wir, wenn wir nicht nur für uns selbst nach einem würdigen Leben suchen, sondern auch für andere, ja für alle Menschen und Tiere. Dies ist verbunden mit der Suche nach ethischen Werten, nach guten Regeln des Zusammenlebens.

Diese Suche ist so alt wie die Menschheit. Und sie ist in allen ernsthaften Religionen zentral. Religionen halten über Generationen hin Forderungen aufrecht wie: du sollst nicht töten, nicht lügen, nicht stehlen bis hin zur goldenen Regel: Behandle Menschen so, wie du selbst behandelt werden willst (Mt 7,12). Ich sage nicht, dass dies nur Religionen tun. Aber sie tun es zentral, mit einer «konservativen Trägheit», die teilweise nötig und beizubehalten (z.B. nicht töten), teilweise aber auch ärgerlich ist und einer Ethik in der aktuellen Gesellschaft entgegensteht (z.B. die notwendige Gleichberechtigung der Geschlechter; die Rechte von LGBTIQ; Anm. der Red: Dies ist die Abkürzung der englischen Ausdrücke für  Lesbisch, Schwul, Bisexuell und Transgender …).

Die Suche nach Ethik und Menschenwürde ist im Menschen irgendwie angelegt beziehungsweise gewachsen, so dass Menschen 1948 auch zu einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden haben.

Dies alles ist nicht selbstverständlich. Meiner Meinung nach hängt das Suchen nach ethischen Werten mit der Suche nach Sinn zusammen. Diese ist zumeist verknüpft mit der Suche nach Göttlichem, nach Gott.

Glauben heisst hinterfragen und zweifeln
Glauben heisst auch Hinterfragen und Zweifeln. Denn der Glaube an Gott ist nicht selbstverständlich. Er wird zudem durch vieles infrage gestellt, mit am stärksten durch die Erfahrungen von Leid und Sinnlosigkeiten: Warum ist diese Welt nicht besser, wenn sie eine gute Schöpfung eines guten Gottes ist?

Zwar sind wir Menschen für viel Leid und Elend selbst verantwortlich und könnten es vermeiden. Aber es gibt auch Leid und Zerstörung, die nicht vom Menschen beeinflusst sind: Erdbeben und Vulkanausbrüche aufgrund der Plattenverschiebung der Kontinente, Tsunamis schon in uralten Zeiten und vielerlei Krankheiten. Warum herrscht im Evolutionsprozess seit Urzeiten ein Fressen und Gefressenwerden?

Meiner Meinung nach haben wir auf dieses Warum religiös und philosophisch keine überzeugende Antwort. Wir müssen die Frage offenlassen. Es ist einfach so. Als gläubige Menschen stellt sich zudem die Frage: Wo ist Gott in all dem Leid? Auch die Menschen zur Zeit der Psalmen kannten diese Frage:

«Tränen sind mein Brot bei Tag und bei Nacht;

denn man sagt mir ständig: Wo ist denn dein Gott?

Meine Seele, warum bist du mutlos

und bist so verzweifelt in mir?» (Ps 42,4-5)

Glauben heisst hoffen
Glauben heisst hoffen: hoffen, dass Leid und Schrecken nicht das Letzte sind; dass hier und jetzt ein würdiges Leben für alle möglich ist; dass wir eine menschliche Asylpolitik betreiben können; dass wir als einzelne Menschen und als Staatengemeinschaft Frieden erreichen können; dass wir den Klimawandel stoppen können.

Solches Hoffen führt zu tatkräftigem Handeln. Es befreit aus Ohnmacht und Resignation und ermutigt zum Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Was wären wir ohne solche Hoffnung für unser Leben und unsere Welt?

Glauben heisst vertrauen
Viele Leute heute denken – und manche Epochen in der Religions- und Kirchengeschichte forderten – Glauben sei vor allem ein (rationales) Für-wahr-Halten von bestimmten Glaubensaussagen (Gott erschuf die Welt in sieben Tagen; die Sintflut geschah so, wie beschrieben usw.).

Doch Glauben ist viel stärker ein Vertrauen als ein Für-Wahr-Halten: darauf vertrauen, dass mir Gott in der ehrlichen Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften begegnen kann, ebenso wie in einem hilfsbedürftigen Menschen, im Gottesdienst und im Gebet, im Geniessen und Bewahren der Natur. Vertrauen darauf, dass ethisches Verhalten richtig ist, selbst wenn es persönliche Nachtteile mit sich bringt.

Glauben heisst vertrauen, dass Gott solidarisch ist mit jenen Menschen, die sich für Menschenwürde, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, gerade wenn sie aufgrund ihres Engagements leiden. Letztlich ist dieses Vertrauen auch die Botschaft des Kreuzes: Dass Gott gerade in Jesu Schrei der Gottverlassenheit zutiefst mit und in dem gekreuzigten Jesus von Nazareth war – und dass der Tod nicht das Ende ist.

Dass Glauben ganz zentral Vertrauen heisst, betonte der Reformator Martin Luther (1483-1546) immer wieder. Berühmt geworden sind seine Worte:

«Einen Gott haben bedeutet, etwas haben, an das ich mein Herz hänge und dem ich unbedingt vertraue […] Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.»

Glauben heisst lieben
Woran «häng’ ich mein Herz?» Die Aussagen von Martin Luther führen mich zu einer weiteren Dimension des Glaubens: Glauben heisst lieben. Nach dem wichtigsten Gebot gefragt, zitierte Jesus von Nazareth zwei Stellen aus der Torah und verband sie miteinander: «Liebe Gott» und «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» (Mk 12,28-31). Beides gehört zusammen: Gott zu lieben, bedeutet den Nächsten zu lieben; den Nächsten zu lieben, bedeutet Gott zu lieben.

Liebe zum Nächsten ist konkretes Handeln, tatkräftige Hilfe (Lk 10,29-37). Und der Nächste ist jeder Mitmensch, selbst ein Feind und besonders die Menschen, die meine Hilfe brauchen: Arme, Verletzte, Kranke, Flüchtlinge, Fremde, Gefangene (Mt 25,31-46).

Dass die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen unauflöslich zusammengehören, kann auch in folgender Aussage des ersten Johannesbriefes gesehen werden:

«Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm/in ihr.» (1. Joh 4,16)

Und was heisst Glauben für Sie? Glauben heisst …

André Flury
Leiter von Kirche im Dialog Bern, Dozent für Homiletik an der Universität Luzern und Herausgeber von glaubenssache-online.ch

Bevor Erwachsene Kinder annehmen, müssen sie sich selber annehmen. Nur wer sich selbst mag, kann andere mögen.

Meine Lieblingstante hatte etwas Spezielles an sich. Es waren nicht ihre Leibesfülle, nicht ihr fröhliches Lachen und auch nicht ihre Grosszügigkeit im Geschenke verteilen. Was war es denn?

Helferwillen
Ich hatte soeben die Erstkommunion hinter mir, als ich zufällig erfuhr, dass die Tante nicht meine richtige Tante sei. Sie sei zwar mit meinem Vater aufgewachsen, als wäre sie seine Schwester. In Wirklichkeit, so sagte man mir, hätte man das Kind «angenommen». Ich kam ins Sinnieren: Angenommen? Nahm man denn nicht jedes Kind an?

Das «Kind-Annehmen» geschah bei meiner Grossmutter aus einem Helferwillen heraus: Wie dies früher öfters passierte, starb die Mutter meiner Tante bei der Geburt ihres Kindes. Wer sollte für das Baby aufkommen, wenn nicht seine Taufpatin? Und so geschah es, dass der Säugling, der zwei Tage nach der Geburt getauft und mit dem Segen des Dorfpfarrers von meiner Grossmutter, die als Gotte amtete, gleich mit nach Hause genommen wurde. In aller Selbstverständlichkeit. Ohne Wenn und Aber.

Ein weiteres Kind
Meine Grossmutter liebte Kinder. Was machte es aus, wenn in der Stube des kleinen Bergheimetlis noch ein zusätzlicher kleiner Knirps herumkrabbelte? Wenn ein weiteres Kind durchgefüttert und eingekleidet, ins entfernte Dorf in den Religionsunterricht und bei Wind und Wetter über Hügel und Schluchten in die kleine Aussenschule geschickt werden musste?

Das «Angenommensein» hatte positive Auswirkungen. Oder waren die Fröhlichkeit und Grosszügigkeit meiner Tante nicht (auch) darauf zurückzuführen, dass das Kind bei meinen Grosseltern in guter und herzlicher Obhut aufgewachsen war? Dass seine Geschwister das Mädchen achteten und liebten, als wäre es ihre «richtige» Schwester?

In der Zwischenzeit kenne ich viele Familien, die ein Kind «angenommen» haben. Meine Familie gehört dazu. Obwohl zwischen meiner Tante und unserem (Adoptiv-)Sohn zwei Generationen liegen, hörte auch ich gelegentlich den Satz: Schön, dass ihr ein Kind annehmt!

«Warum gehört keines mir?»
Bevor ich aber ein Kind annehmen konnte, musste ich mich selber annehmen. Ich musste meiner unfreiwilligen Kinderlosigkeit in die Augen schauen und den Gedanken zulassen, dass die natürlichste Sache der Welt (aus medizinischen Gründen) nicht unserer Natur entsprach.

Ich erinnerte mich an jenen Tag, als mein Herzschlag bei einem Spitalbesuch ins Stocken geriet. Beim Passieren der Säuglingsabteilung konnte ich meine Blicke kaum abwenden von den vielen Kinderbettchen, in denen die Babys schliefen. Ich starrte sie regelrecht an, die rötlichen und gelblichen Köpfe der Säuglinge, ihre dunklen Haare, die winzigen Fäustchen. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu schreien: Warum gehört keines dieser Babys mir?

Die Natur hat anderes mit uns vor, trösteten mein Mann und ich uns gegenseitig. Es war ein Trost, dem der Glaube fehlte. Denn ich betrachtete vorerst meine Kinderlosigkeit als eine Art Mangelkrankheit. Zudem verwirrte mich die Hypothese der Ethnologin Margaret Mead, die behauptete: «Das Wichtigste im Leben einer Frau ist jene Tätigkeit, die sie am meisten ausfüllt.»

Neue Perspektiven
Später, als die Wut vorüber und die Trauerarbeit zu einem guten Teil geleistet war, entpuppte sich die unfreiwillige Kinderlosigkeit als wertvolle, eigenständige Erfahrung. Zudem wurden wir frei für neue Lebensperspektiven. Langsam, still und leise wuchs in unseren Herzen und Köpfen der Wunsch, Eltern zu werden für ein Kind, dessen Körper und seelische Anlagen nicht den unsern ähneln mussten.

Wir nahmen unsere Körper an, wie sie waren. Und wir nahmen uns an, wie wir eben waren. Die anfänglich als negativ empfundene, unfreiwillige Kinderlosigkeit hatte ihren Schrecken verloren. Sie wurde durch eine positive Einstellung ersetzt. Schliesslich erfüllten sich Adoptiveltern durch ihre Elternschaft nicht nur ihren eigenen Kinderwunsch, sondern auch einen gesellschaftlichen Auftrag.

Nicht irgendwo in der grossen, weiten Welt, sondern in unserer Nähe gab es dann tatsächlich einen Menschen, der für uns bestimmt war. Dieses Baby empfingen wir mit herzlicher Offenheit. Das gegenseitige «Angenommensein» dauert bis zum heutigen Tag.

Das etwas andere Wunschkind
Sibylla S. (Name der Redaktion bekannt) zeigt mir bei meinem Besuch als erstes das Bild in einer Zeitung aus den 1980er-Jahren: 600 Buben und Mädchen aus verschiedenen europäischen Ländern, aus den USA, aus Indien und Island stehen vor einem englischen Krankenhaus und schauen farbigen Ballonen nach. Die Ballone sind mit dem Namen der Kinder beschriftet und fliegen in den blauen Himmel. Alle Kinder sind fröhlich und ausgelassen. «Eines dieser Kinder ist Louise Brown», heisst es in der Bildlegende, «es wurde weltweit als erstes Kind im Reagenzglas gezeugt.»

«Nach 1978 sind Millionen von Kindern auf der ganzen Welt durch In-vitro-Fertilisation entstanden, ich gehöre auch zu ihnen», sagt, mit etwas Stolz in der Stimme, die fünfundzwanzigjährige Sibylla S. Doch dann ergänzt sie ihre Aussage eher nachdenklich: «Der früher oft verwendete Begriff ‹Retortenbaby› ist nicht gerade ein freundlich klingendes Schlagwort für Kinder, die durch Befruchtung ausserhalb des menschlichen Körpers gezeugt wurden. Darum ist heute meist von ‹Wunschkind› die Rede. Auch in der Medizin spricht man kaum mehr von künstlicher Befruchtung, sondern von medizinisch assistierter Reproduktion.»

Gesund wie andere Kinder
Sybilla S. spricht selten und nur in vertrauten Kreisen über ihre Zeugung ausserhalb des menschlichen Körpers. Zuweilen würde sie gefragt, ob menschlich und ethisch alles erlaubt sei, was medizinisch machbar sei. «Ich bin nicht Ärztin geworden, sondern Gärtnerin», sagte Frau S. und lächelte vielsagend. Mittlerweile wisse man aus vielen Untersuchungen, dass «Wunschkinder» genau so gesund aufwachsen würden wie ihre spontan gezeugten Altersgenossinnen. Wunschkinder würden keine besonderen Auffälligkeiten zeigen, weder in der psychosozialen Entwicklung noch in der Beziehung zu den Eltern.

«Kinder haben aber feine Antennen, was den psychischen Stress ihrer Eltern angeht», fügte Sibylla S. dann noch an. So habe sie erfahren, dass ihre Mutter sie früher als der Vater über den Hergang ihrer Zeugung informieren wollte. Mit Hilfe von Kinderbüchern und einer Psychologin sei man dann behutsam, irgendwie «natürlich» an das Thema herangegangen.

Von ihren Eltern hat sich Sibylle S. seit jeher geliebt und angenommen gefühlt. Und nun, was ist ihr grösster Wunsch? «Bald selber Mutter zu werden»! Sollte eine natürliche Zeugung nicht möglich sein, würden Sibylle S. und ihr Partner ohne weiteres auf eine medizinisch assistierte Reproduktion zugehen.

Lydia Guyer-Bucher

Er nimmt jeden Lebensabschnitt so an, wie er ihm «zufällt»: Franz von Assisi, dessen Leben immer wieder andere, vielfältige Formen annimmt. Auch nach vielen Jahrhunderten fasziniert uns seine Lebensgeschichte.

Menschen leben ihr Leben in Etappen. Jeder Lebensabschnitt hat eigene Formen der Zugehörigkeit. Franz von Assisi erfährt zunächst familiäre Geborgenheit, wird als junger Kaufmann in Assisis führende Zunft aufgenommen, erlebt als Kriegsgefangener Schicksalsgefährten in Perugias Kerker und gründet nach einer Zeit einsamer Sinnsuche mit Gefährten eine fraternitas – eine geschwisterliche Bewegung. Sie entwickelt die Vision einer Geschwisterlichkeit, die niemanden ausschliesst.

Familiäre Geborgenheit
Franziskus‘ Kindheit verläuft sonnig. Er wächst in reichem Haus aus, erhält Schulbildung und wird von seinen Eltern liebevoll gefördert. Als Jugendlicher arbeitet er sich in den Beruf eines Modeexperten ein. Unterwegs durch die Provence verliebt er sich in die französische Kultur.

Die Horizonte weiten sich, doch bleibt seine Verwurzelung in Assisi: Leben und Arbeit mit seiner Familie, Lebensfreude und Feste mit ausgewählten Freunden, kühne Karriereträume in der Kleinstadt, die sich damals eben vom deutschen Fremdherrscher befreit.

Quälende Einsamkeit
Äussere und innere Beheimatung kann unerwartet verloren gehen. Franziskus stolpert über seinen Ehrgeiz, zieht in einen Krieg gegen die Nachbarstadt, erlebt ein Desaster und landet in Kriegsgefangenschaft. Der einjährigen Kerkerhaft folgt eine Krankheit, aus der er sich erst nach Monaten aufrappelt.

Danach erscheint ihm sein geliebtes Städtchen erschreckend farblos und sein Kaufmannsleben ohne Sinn. Franziskus sucht neue Lebensfreude. Er findet sie ausserhalb seiner Stadt und Zunft, fern von Familie und Freundeskreis: in der bergenden Stille einer verlassenen Krypta und unter Aussätzigen. Dunkle Erfahrungen aus Krieg, Kerker und Krankheit finden Licht in Distanz zu einer Stadt, mit der Franziskus nach Gotteserfahrungen in der armen Landkirche San Damiano bricht.

Christusfreundschaft
Dem Bruch mit Stadt, Zunft und Familie folgen zwei Jahre als Einsiedler bei San Damiano. Die neue Biografie von Volker Leppin sieht Franziskus in dieser Phase vorschnell als orientierungslosen Aussteiger. Obwohl er hier mit Randständigen am zerfallenden Kirchlein baut, findet er in eine neue Geborgenheit und eine Freundschaft, die zur tragenden Beziehung seines Lebens wird.

War Franziskus bis anhin religiös uninteressiert, öffnet ihm hier eine Ikone die Augen für eine überraschende Gottesnähe. Nicht der Weltenherrscher, den die Kirchen in der Stadt darstellen und die adeligen Prediger verkündigen, sondern ein Gottessohn mit offenen Augen, offenem Ohr und weit offenen Armen erwartet ihn hier auf einer Ikone in der ärmlichen Kapelle; ein Christus, der schaut, hört und umarmt. In seinen Fussspuren findet Franziskus seinen neuen Lebenssinn und Auftrag.

Friede ohne Mauern
Das Leben vor den Stadtmauern zeigt Franziskus drastisch, wie exklusiv seine Stadt tickt. Die Freiheit, die sie sich erkämpfte, gilt nur für Bürger innerhalb der Mauern, nicht für die Bauernfamilien auf dem Land. Sie bleiben den adeligen Grundherren und den Klöstern ausgeliefert. Die städtische Wirtschaft setzt auf Produktion und Gewinn.

Wer behindert, wenig belastbar oder nicht mehr leistungsfähig ist, droht zu verarmen und aus der Stadt verstossen zu werden. Das schlimmste Schicksal trifft Aussätzige. Panische Angst vor Ansteckung führt dazu, dass Adelige wie Bürger, Arbeiterinnen oder Familienmütter von einem Tag auf den andern aus der Stadt getrieben werden und sich ihr nie wieder nähern dürfen.

Franziskus erfährt im Evangelium, dass Jesus seine Freunde und Jünger aussandte, um Friede in die Häuser und Städte zu bringen. Der Einsiedler wird zum Friedensboten: Er arbeitet mit Bauern und Bürgern, baut Brücken zwischen Privilegierten und Ausgeschlossenen und spricht von einem Gott, dessen Liebe keine Mauern und Klassen kennt.

Geschwister ohne Grenzen
Die Christusfreundschaft und Menschenliebe, die Franziskus im eigenen Tun lebt, fasziniert. Bald schliessen sich ihm Gefährten an. Sie verbinden, was die damalige Gesellschaft und Kirche in Stände trennte. Bernardo ist ein Vornehmer, Pietro ein Gelehrter, Egidio ein Handwerker. Zu den Städtern kommen Bauernsöhne, zu den Laien erste Priester. Der Biograf schreibt später über das soziale Wunder, das sich in dieser entstehenden fraternitas ereignet: «Die Brüder empfanden einzigartige Freude, wenn jemand, vom Geist Gottes geführt, kam, um das Kleid ihrer Gemeinschaft zu nehmen. Es war ganz gleich, wer oder was er war, ob arm oder reich, ob hochgestellt oder niedrig, ob unbedeutend oder angesehen, ob klug oder einfältig, ob Geistlicher, Ungebildeter oder Laie im christlichen Volk. Auch die Weltleute bewunderten all das und sahen darin ein Beispiel, das auch sie zu einem neuen Lebenswandel aufrief.»

Als sich den frühen Brüdern drei Jahre später mit Klara eine Schwester anschliesst, beginnt ihre Gemeinschaft ihre Christusnachfolge sesshaft zu leben: wie Marta und Maria in Betanien mit einem offenen Haus. Die Schwestern haben offene Türen und Hände für Menschen aus nah und fern. In «Briefen an alle Gläubigen» macht Franziskus deutlich, dass Nachfolge Jesu auch mit Familie und in den angestammten Berufen zu leben ist: als Söhne und Töchter Gottes, inspiriert von seinem Geist und als Freunde, Geschwister, Geliebte und Mütter Christi.

Jede Art Exklusion überwinden
Die erste ausführliche Bildbiografie, die das Leben des Heiligen um 1250 auf einer grossen Altartafel (so genannte Barditafel) beschreibt, drückt die sich weitenden Horizonte und immer reicheren Formen der Zugehörigkeit auf sinnenfällige Art aus. Die Lebensskizze beginnt links oben. Die erste Szene zeigt Franziskus mit seinen Eltern – in der familiären Welt, die ihn einengt und die er hinter sich lässt. Die zweite Szene zeigt den Prozess vor Bischof Guido: Franziskus in seiner Ortskirche. In der dritten Szene wird Franziskus Einsiedler und in der vierten erkennt er seine Berufung: ein neuer Jünger Jesu und Bruder der Menschen zu sein.

Die fünfte Szene zeigt ihn mit den ersten Brüdern vor Papst Innozenz III.: Die junge Bruderschaft sieht sich in die ganze Weltkirche gesandt. Sie bringt Menschen die Zuwendung Gottes kreativ nahe, an Weihnachten etwa, indem in Greccio das erste Krippenspiel der Geschichte aufgeführt wird. Die siebte Szene zeigt Franziskus als Bruder der Geschöpfe, der mit Vögeln spricht und singt. Die letzte Szene dieser linken Bilderfolge führt nach Ägypten.

Kein «Heiliger Krieg»
Wenn Gottes neue Welt «bis an die Grenzen der Erde» erfahrbar werden und allen Geschöpfen verkündet werden soll, wie es die Evangelien vom Auferstandenen berichten, kann Franziskus der Doktrin seiner Kirche nicht folgen, die zum «Heiligen Krieg» gegen den Islam aufruft. Gott ist Schöpfer und Vater aller Menschen – und Muslime können daher weder als Unmenschen noch als Teufelssöhne verunglimpft werden.

Die Friedensmission, mit der Franziskus in den fünften Kreuzzug eingreift, wartet mit einer weiteren Überraschung auf. Zusammen mit einem Gefährten ins Lager von Sultan Muhammad al-Kāmil aufgebrochen, entdeckt Franziskus Gottesfreunde in der anderen Religion. Er lernt von der spirituellen Weisheit des Islam und lädt, zurück in Italien, «alle Menschen auf Erden» ein, es ebenfalls zu tun. Als Bürger einer Kleinstadt geboren und in ihr geborgen, vollendet Franziskus sein Leben als Bruder aller Menschen; weil weder Gottesfreundschaft noch wahre Menschlichkeit Grenzen kennen.

Einheit von Himmel und Erde
Die rechte Bildfolge der Barditafel zeigt von unten aufsteigend, in welche Einheit Franziskus am Ende des Lebens findet – und welche er aufscheinen lässt. Am Kapitel der Brüder in Arles wird deutlich, dass die Bruderschaft alle nationalen Grenzen überwindet. Die zweite Szene zeigt Franz auch in alten Tagen als Freund der Aussätzigen – soziale Brücken bauend. Die dritte Szene stellt den Verstorbenen in den Himmel einziehend dar.

In den folgenden Bildern steht Franziskus als Freund im Himmel Menschen in vielfältigen Nöten bei. Irdische Pilgerwege führen in eine himmlische Gemeinschaft, aus der niemand herausfällt.

Niklaus Kuster

Unter dem Titel „Räume des Wissens. Die Bibliothek der Freiburger Kapuziner/Territoires de la Mémoire. La bibliothèque des Capucins fribourgeois“ findet vom 19. Mai bis 12. Juni eine Ausstellung zu den drei Kapuzinerbibliotheken (Bulle, Romont, Fribourg) in den Räumen des Franziskanerklosters Freiburg statt (Mo bis Do 14.00-18.00).

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Der Kapuziner Paul Hinder ist Bischof in Abu Dhabi und dankbar für die Botschaft des religiösen Friedens und der Geschwisterlichkeit von Papst Franziskus, dem Bischof in Rom. Raphael Rauch von www.kath.ch hat mit Br. Paul ein Interview geführt, das hier gelesen werden kann.

Der diesjährige Band widmet sich folgenden Schwerpunkten:
– den Lehrschwestern vom Heiligen Kreuz (Menzingen) und ihr Schulwesen im 19./20. Jahrhundert;
– der Übernahme des Missionsgebietes Tansania 1921 durch die Schweizer Kapuziner
– den Schicksalen schweizerischer Kapuzinerbibliotheken.

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Buch zum Kapuziner Antoine-Marie Gachet

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