Bruder Adrian Holderegger wird 80
Der Theologe und Ethiker Adrian Holderegger feiert am Dienstag seinen 80. Geburtstag. Der Kapuziner hat an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg katholische Ethik gelehrt und bedeutende Werke publiziert. In der Missbrauchsdebatte ist er durch kritische, sachliche Voten aufgefallen.
Stephan Leimgruber in kath.ch
Geboren in Appenzell, besuchte Adrian Holderegger das Kollegium Appenzell und trat unmittelbar nach der Matura in den Kapuzinerorden ein. Er studierte Philosophie und Theologie an der ordenseigenen Hochschule in Solothurn, danach in Freiburg (Schweiz).
Auch Psychologie studiert
Dort weitete er den Blick durch ein zusätzliches Psychologiestudium, das er in Basel an der medizinischen Fakultät im Bereich der klinischen Psychologie fortsetzte. Dies war für ihn wichtig für seine späteren biomedizinischen Arbeiten. In Basel studierte Adrian Holderegger ausserdem evangelische Theologie, was ihn sensibilisierte für den ökumenischen Austausch auf dem Feld der Ethik.
1975 trat er eine Assistentenstelle am ethischen Lehrstuhl der Universität Freiburg (Schweiz) an. Es war jene Zeit, als Franz Böckle und Alfons Auer die autonome Moral im christlichen Kontext entwickelten und die frühere deduktive Gehorsams- und Gesetzesmoral ablösten. Mündige Frauen und Männer sind die Adressaten dieser Moral, welche die Achtung des Menschen und seinen Gewissensentscheid viel bestimmter einbringt, als das in früheren moraltheologischen Entwürfen der Fall war.
Studien zum Suizid
Adrian Holderegger widmete Dissertation und Habilitation der Suizidproblematik und versuchte diese menschliche Schlüsselsituation anthropologisch und besonders von psychologisch-medizinischer Seite her gerecht zu werden. Das frühere undifferenzierte moralische Urteil über den Suizid, das unter anderem die Bestattung ausserhalb des christlichen Friedhofs vorsah, entsprach weder dem Stand der Wissenschaft noch dem Geist des Evangeliums.
Holderegger zeigte vielmehr auf, dass der Suizid in der Regel das Ende einer psychischen, einengende Entwicklung darstellt, das kaum mehr als freier Willensakt verstanden werden kann. Diese Auffassung hat sich mittlerweile auch in der kirchlichen Praxis durchgesetzt. Inzwischen stellt sich im Umfeld der Selbstverfügungsproblematik eine neue, akute Kernfrage, nämlich diejenige nach einem begleiteten Suizid für unheilbar kranke Menschen. Dies führt ins Zentrum christlicher Freiheit, die das schwierige Thema auszuloten hat, wieweit dem Menschen ein Verfügungsrecht zukommt.
In seiner Habilitationsschrift «Suizid und Suizidgefährdung» kommt Holderegger auf Faktoren zu sprechen, die ins Spiel kommen, wenn es gilt, ein gutes und gelingendes Leben zu ermöglichen und dem Suizid präventiv zu begegnen. Er plädiert für selbstbestimmte Entscheide der Menschen auch in Notsituationen, die allerdings eingebettet sind in die Achtsamkeit für das Leben und die Fürsorgepflicht von Kirche, Familie und Gesellschaft.
Warnung vor heikler Sexualmoral
1981 wurde Adrian nach mehreren Lehrstuhlvertretungen auf den Ethiklehrstuhl der Universität Freiburg berufen, wo er dann während dreissig Jahren lehrte. Nützlich dürfte seine Zweisprachigkeit gewesen sein für eine doppelsprachige theologische Fakultät. Holderegger war Nachfolger von Dietmar Mieth.
Zum Professor wurde er ernannt, als die Fakultät noch geprägt war vom sogenannten Pfürtnerskandal, der zur Entfernung des umstrittenen Stephan Pfürtner geführt hat. Dieser hatte damals Tabus im sexuellen Bereich, etwa voreheliche Beziehungen, angetastet und eine neue Sexualmoral eingefordert. Bei der Anstellung musste Holderegger dem Dekan versprechen, die Sexualmoral nicht gerade zum Schwerpunkt von Lehre und Forschung zumachen. Das könnte erneut zu viel Ungemach für die Fakultät führen.
Umweltethik und interreligiöse Spiritualität
Der Freiburger Theologe kannte sich in vielen Teilgebieten der Ethik aus und fand dort nationale und internationale Anerkennung. So arbeitete er sich in die Medienethik ein, um das verantwortliche Handeln von Journalistinnen und Journalisten zu fördern. Er befasste sich mit Problemen der biomedizinischen Ethik, etwa der Hirnforschung, wie auch mit Fragen des interreligiösen, ethischen Dialogs, der politischen Ethik und der Umweltproblematik.
Als Mitglied des Kapuzinerordens verbindet er eine franziskanische Spiritualität mit der Friedens- und Versöhnungsarbeit. Seine Überlegungen zur Rolle von Religionen in Friedensprozessen dienen als Brücke zwischen akademischem Diskurs und praktischer Diplomatie. Dies konnte er an verschiedenen internationalen Konferenzen der Uno unter Beweis stellen.
Christliche Beiträge für säkulare Welt
Kurz nach der Emeritierung brachte Holderegger zwei bedeutsame Publikationen heraus. Zum einen «Leidenschaft für Franz von Assisi» (2018), in der er die franziskanische und interreligiöse Schöpfungsspiritualität seines Mitbruders Anton Rotzetter systematisch darlegte.
In seinem zuletzt erschienen Buch «Ethische Perspektiven» (2021) publiziert er seine früheren Statements, Essays und Voten, die er im Laufe seiner Vorträge und Positionspapiere sowie in Diskussionsbeiträgen geäussert hat. Stets geht es um kritisch-reflektierte Stellungnahmen in einer säkularen Gesellschaft, in denen er die Visionen und Perspektiven jüdisch-christlicher Tradition – etwa die Würde des Menschen – behutsam und verständlich darlegt.
Kritik am Pilotprojekt über sexuellen Missbrauch
Adrian Holderegger hat sich zur grossen Problematik der sexuellen Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen verschiedentlich geäussert: zum einen als Gutachter im Fall Pittet, zum andern im Zusammenhang mit dem Pilotprojekt zur Aufarbeitung sexueller Gewalt in der Schweizer Kirche. Beide Male fällt sein sachlich zurückhaltendes, aber breit abgestütztes Urteil auf. Selbstverständlich ist für ihn, dass die Kirche zu den begangenen schweren Verbrechen an Jugendlichen und Erwachsenen ohne Wenn und Aber zu stehen hat.
Andererseits fragt Holderegger nach den psychologischen Hintergründen dieser Vergehen und kontextualisiert in Kirchen und Gesellschaft. Er zeigt sich interessiert an Missbrauchsprävention, und zwar im Interesse der Menschlichkeit und der Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft.
Seine jüngste Publikation ist die Herausgabe von Band IV der «Schweizer Theologinnen und Theologen» im Herbst 2025 bei TVZ. Darin sind 59 Porträts heute lebender oder jüngst verstorbener Theologinnen und Theologen nachzulesen.
*Stephan Leimgruber ist Seelsorger im Pastoralraum Luzern. Bis 2014 war er Professor für Religionspädagogik an der LMU München.
Vgl. https://www.kath.ch/newsd/adrian-holderegger-wird-80-der-ethiker-stellt-sich-fragen-der-zeit/
