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Alter ist wie eine Terrasse ... weiter und genauer sehen

90 Jahre – damit der Vollendung näher. Das schenkt mir ein nüchternes Sehen, wie begrenzt und vergänglich das Leben ist. Ein Psalmwort lässt mich darum beten: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“ (Ps 90,12). In solchem Beten liegt die Weisheit, die täglich wachsenden Grenzen und die Vergänglichkeit des Lebens anzunehmen. Darin öffnet sich das kurze Leben in die Weite der unendlichen Liebe im Geheimnis Gottes.

Staunend darf ich mit vielen Menschen, denen ich im langen Leben begegnet bin, beten: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir all deine Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, …und dich mit Huld und Erbarmen krönt, der dich dein Leben lang mit seinen Gaben sättigt“ (Ps 103). Im Danken kann ich mein Leben in das göttliche Geheimnis legen, in Seine Hände. In diesem Gehalten-Sein liegt Zukunft ohne Grenzen. „Das Maß unserer Dankbarkeit entscheidet, in was für einer Welt wir leben wollen: in einer Welt des Mangels oder der Fülle. Es ist eine Illusion, dass äußere Dinge uns jemals glücklich machen können, wenn wir die Fähigkeit zur Dankbarkeit verlieren“ (Martin Schleske, Werk/Zeuge, 149). Dankbar weiß ich mich in den unsichtbaren Händen der göttlichen Liebe. Darin brauche ich aus meinem bisherigen Weg nichts auszuklammern: weder das Schuldhafte, das Versagen, noch das Fruchtbare und Gute von Gott durch mich gewirkt – alles findet Aufnahme und Vollendung in Gott und Seiner Schönheit.

Aus diesem Vertrauen finde ich auch die Kraft, alle jene um Verzeihung zu bitten, an denen ich schuldig geworden bin. Worte des Mystikers und Politikers Dag Hammarskjöld sind mir jetzt bedeutsam: „Dem Vergangenen: Dank, dem Kommenden: Ja.“ Im Schauen auf das zurückliegende Leben schenken Worte von Paulus mir Licht und innere Freiheit: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir ist nicht ohne Wirkung geblieben“ (1 Kor 15,10).

In diesem Sinn darf ich mein Leben mit Dag Hammarskjöld zusammenfassen: „Nicht ich, sondern Gott in mir.“ Gott hat mich reich beschenkt, um im Geiste Jesu Christi mein Leben zu wagen, d.h. in der Verbundenheit mit Jesus Christus reiche Frucht zu bringen im Dienst an den Menschen (vgl. Joh 15,5). Einzig im Glauben schreite ich diesen Weg, nicht im Schauen. „Im dem Glauben an Gottesvereinigung mit der Seele hat darum alles einen Sinn. So leben, so nutzen, was in deine Hand gegeben wurde“ (Dag Hammarskjöld). Der Weg in der wachsenden „Gottesvereinigung“ ist oft ein Schreiten in die Dunkelheit. Das Wort von Karl Rahner ist mir wegweisend: „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten.“ Doch alles ist von großer Hoffnung getragen: „Wir sind unterwegs zu dem hin, zu dem alle Bäche unserer Sehnsucht pilgern, namenloses Jenseits hinter allem, was uns vertraut ist.“ (K. Rahner).

In diesem Geist kann ich erd-verbunden bleiben. Lebenswert wird das Alter durch die Offenheit für das Schöne und die geschenkten Freuden, z.B.: ein gutes Wort zueinander. Ich bin dankbar für alle Hilfe, die mir zuteilwird. Ich entdecke die Freiheit, nicht mehr alles tun und erleben zu müssen. Es wächst eine innere Aufmerksamkeit, eine „Andacht“ in allem, was ich tue. Es ist wie eine „heilige Gegenwart“. Ich erlaube mir stille Momente, höre in die Stille und atme die jetzigen Sorgen aus ins Geheimnis – vielleicht: „Du, Du bist da.“ Jetzige Schmerzen oder Leiden können leichter werden.

Älter-Werden oder Alt-Sein kann eine Chance sein für einen tieferem Sinn im Leben. Die Dichterin M.L. Kaschnitz (+ 1974) gibt Zeugnis davon: In einer Antwort an eine Freundin, die das Alter wie einen Kerker sieht, schreibt sie: „Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht – ein Licht von Sonne, in das ich hinabstürzen kann.“

Dank zur Feier von 90 Jahren             21. Juli 2024           Br. Wilhelm Germann

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