Zum Hauptinhalt springen

Stetes Grenzen überwinden

Niklaus Kuster, aus ITE 24/5: Die kleine Schweizer Kapuzinerprovinz zählte vor fünfzig Jahren weltweit am meisten Brüder. Der Rekord verdankte sie dem Mut, immer wieder neu Grenzen zu überwinden. Ein Streifzug durch die Geschichte und ein Blick in die Zukunft.

Eine erste Grenze überwanden frühe Kapuziner mit dem Po, dem grössten Fluss Italiens. Zehn Jahre nachdem erste Reformer ihre Klöster in Mittelitalien verlassen hatten und als Wanderbrüder auf den Weg gingen, errichteten Kapuziner 1535 eine Eremitage im Südtessin. Pacifico Carli, der als Maurer aus Lugano in Rom zur Reform gestossen war, baute sie zum Bergklösterchen Bigorio aus. In den Kastanienwäldern des Sottoceneri lädt es noch heute zur Einkehr ein. Unter Gregor XIII., der die Ausbreitung der Reform über die Alpen hinaus erlaubte, überquerte 1581 eine erste Expedition den Gotthard. Dazu war Druck von Seiten des Papstes nötig, weil die Südländer sich ein Leben ohne Olivenöl und unter den in Italien gefürchteten Eidgenossen nicht vorstellen konnten. Francesco Sermondi, dem Veltliner Leiter der Gruppe, gelang die Errichtung des Klosters Altdorf und der Auftakt zu einer Gründungswelle, die in kurzer Zeit drei weitere Hauptorte der Innerschweiz mit Kapuzinern versah. 

Das Evangelium im Alltag deuten
Von Altdorf, Stans (1582), Luzern (1583) und Schwyz (1585) aus wurden zunächst die Pfarreien rund um den Vierwaldstättersee für die Reformen des Trienter Konzils gewonnen. Mit ersten Klostergründungen im Mittellandbogen – Appenzell (1587), Solothurn und Baden (beide 1588) – gelang es, von reformierten Nachbarn bedrängte Gebiete katholisch zu erneuern. Die Volksprediger deuteten dazu das Evangelium in den Alltag der Menschen und weckten damit neue Glaubensfreude. Während die Provinziale der Pionierzeit noch aus der Lombardei stammten, bereitete der Sachse Ludwig Einsiedel als Starprediger mehreren Klostergründungen den Boden.

Über Hochrhein und Schwarzwald
Schnell riefen weitere Orte nach Brüdern des neuen Modeordens. Nachdem 1589 die Schweizer Provinz errichtet worden war, traten deren jährliche Versammlungen zunächst auf die Gesuche aus Zug und Frauenfeld (1595), Rheinfelden (1596) und Rapperswil (1602) ein. Die rasche Expansion überwand auch den Röstigraben und die Juraketten: 1605 wurde ein Klosterbau in Sursee beschlossen, 1609 in Fribourg, 1617 in Bremgarten, 1623 – während der Bündner Wirren – ein Hospiz in Chur und 1626 ein Kloster in Delsberg. Die Stossrichtung ist unverkennbar: Nach dem Sichern der Hauptorte galt es, auch deren Landgebiete und die katholischen Regionen in der West-, Nord- und Ostschweiz kirchlich zu erneuern.

Diese Strategie machte sich auch das Haus Habsburg jenseits der Rheingrenzen zunutze. 1599 bot die Schweizer Provinz Hand zur Gründung eines Klosters im Breisgauer Freiburg und 1601 im Vorarlberger Hauptort Feldkirch. Bereits 1603 kamen die Bischofsstadt Konstanz und Ensisheim, das Elsässer Verwaltungszentrum der Habsburger, zu einem Kloster. Am Oberrhein folgten Gründungen in Neuenburg 1612 und Kienzheim 1613, im Schwarzwald ein erstes Kloster 1615 in Biberach und im Bodenseeraum 1618 weitere Gründungen in Engen und Überlingen. Die Zerstörungen des Dreissigjährigen Krieges konnten diese Expansion nur hemmen. 1631 erreichte die Helvetica Baden-Baden, 1634 Stuttgart und 1641 Wangen im Allgäu.

Multikulturelle Gemeinschaften
Die Ausdehnung der Provinz von den Alpen bis zu den Vogesen, über den Schwarzwald und bis zum Arlberg sorgte dafür, dass Brüder aus Elsass, Schwaben und Vorarlberg mit Eidgenossen in denselben Konventen zusammenlebten. Die Eintrittswilligen kamen von Stadt und Land, aus Patrizier- und Bauernfamilien, den Kernlanden und den Untertanengebieten der Eidgenossenschaft, von allen Ufern des Bodensees und des Hochrheins, von der Alb und aus den Alpen. Brüder aus habsburgischen Landen leiteten Urschweizer Klöster. Was alle grundlegend verband, war das Vaterunser. Der gemeinsame Vater im Himmel liess die Kapuziner Menschen aller Schichten Brüder werden.

Provinzteilungen
Die weite Ausdehnung der Provinz und ihr Wachstum schufen zunehmend Probleme. Der Provinzial hatte in seiner dreijährigen Amtszeit alle Klöster zu besuchen und mit jedem Bruder zu sprechen. Zum Provinzkapitel wanderten die Leiter der Klöster und die Delegierten oft wochenlang. Diese Wahlversammlungen, die auch alle bedeutsamen Beschlüsse fassten, fanden kaum mehr Platz in einem Kloster. In Rapperswil lagerten die 46 Delegierten vom 4.-9. Juli 1642 «bis unter das Dach», wie der Chronist festhält.

Die zunehmenden Distanzen und die Brüderzahl führten 1668 zur Abtrennung der süddeutschen Klöster und 1732 zur Bildung einer eigenen Elsässer Provinz. Indem die von Savoyen gegründeten Walliser Klöster 1767 zur Helvetica kamen, weitete diese sich in die westlichen Alpentäler aus. Die Tessiner Klöster wechselten ihren Status mehrmals: zunächst ein Kommissariat von Mailand, bildeten sie ab 1784 die Kustodie Lugano, wurden 1845 zur Provinz erhoben und waren 1973-2018 die italienischsprachige Region der Schweizer Provinz.

Klassische Wirkfelder
In den ersten drei Jahrhunderten veränderten sich die Tagesstruktur des klösterlichen Lebens wie auch die Arbeitsfelder kaum. Das Kloster Rapperswil steht modellhaft für die ganze Provinz. Selbst 1866 – in der tiefsten personellen Krise des Ordens – bestand die Gemeinschaft aus 14 Kapuzinern: vier Laienbrüdern und zehn Priestern. Zwei Brüder produzierten in der Wollweberei Tuch für die ganze Provinz. Ein Bruder besorgte die Pforte und Hausarbeiten, einer war Koch und zugleich Gärtner. Der Guardian leitete das Kloster, hörte Schwestern Beichte und war Fabrikinspektor. Die anderen Patres übernahmen Aufgaben in der klösterlichen oder der wandernden Seelsorge: Zeit für Ratsuchende oder Notleidende in Beichtstuhl, Sprechzimmer oder Suppenstube, Predigtaushilfen in den Pfarreien, Andachten, Katechese und Krankenseelsorge.

Als Spezialgebiete kamen die Begleitung von Strafgefangenen, Diasporaseelsorge im Kanton Zürich, Volksmissionen und populäre Erbauungsliteratur hinzu. 1966 – als die Provinz mit über 800 Brüdern ihren personellen Höhepunkt erreicht hatte – beherbergte Rapperswil 19 Brüder: sechs Laienbrüder, die sich die Ressorts Küche, Garten, Hausdient, Pforte und Weberei teilten, und dreizehn Priesterbrüder, wovon zehn Prediger waren. Seitdem die Schweizer Provinz 1921 erste Missionsgebiete in Afrika übernommen hatte, zu denen Engagements in Ozeanien und Südamerika kamen, weiteten Brüder auf Heimaturlaub die Horizonte. Nach dem Zweiten Weltkrieg spezialisierte sich die Seelsorgearbeit: Kapuziner wirkten als Bauern-, Jugend-, Arbeiter-, Ausländer-, Behinderten- und Spitalseelsorger. In den Kapuzinerschulen von Stans, Näfels und Appenzell unterrichteten Brüder als Lehrer und Internatspräfekten.

Projektklöster – etwa das «Kloster zum Mitleben»
Dem zahlenmässigen Höhepunkt der Provinz 1967 folgte ein rapider Rückgang. Pillenknick und Kleinfamilien, Individualismus und Bedeutungsverlust der Kirchen liessen Ordenseintritte spärlich werden und führten zum Rückzug aus Klöstern. Die jüngsten Schliessungen betreffen 2024 die Klöster Olten und Sitten, wie vielerorts zum Bedauern breiter Bevölkerungskreise. Da Brüder anders als Mönche nicht an Orte gebunden sind, konnte die Provinz Projektklöster schaffen, die auf neue Bedürfnisse in Kirche und Gesellschaft antworten.

Das heute ökumenisch zusammengesetzte «Kloster zum Mitleben» in Rapperswil lädt zu Auszeiten, die oft über Monate ausgebucht sind. Die Gemeinschaft von Mels verbindet regionale Seelsorge mit innovativen Gottesdiensten und meditativen Angeboten im Kloster. In Luzern teilen die Brüder ihre Räume mit «klosternah Wohnenden» und dem Ärztezentrum Medicum. St. Maurice stösst mit seiner Hôtellerie franciscaine auf hohe Nachfrage und ist als «Souffle d’Assise» eine spirituelle Oase der ganzen Westschweiz. Die ältesten Brüder der Provinz finden in den Seniorenklöstern Wil und Schwyz ein bedächtigeres Leben und fachkundige Pflege.

Aus ihrer langen Geschichte reich erfahren im Integrieren von Brüdern verschiedener Kulturen, schaut der Provinzrat heute glücklich auf ein Dutzend junger indischer Brüder, die Deutsch- und Westschweizer Gemeinschaften bereichern und in mehreren Klöstern leitende Funktionen übernommen haben. Die Globalisierung der Welt mischt nicht nur die Gesellschaft bunter, sondern auch Klöster: Sie haben die Chance, die von Papst Franziskus postulierte «Geschwisterlichkeit ohne Grenzen» auch lokal ermutigend vorzuleben.