Christliche Friedens-Ethik

«Gewaltlosigkeit und Gewaltanwendung bleiben ein Paradox»; aus „Sonntag“ 5/2023.

Am 24. Februar jährt sich der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Ohne äusseren Anlass wurde die Integrität eines souveränen, autonomen Staates verletzt, was im Westen als Angriff auf die fundamentalen Werte einer freien, demokratischen Werteordnung gesehen wird. Adrian Holderegger, Kapuziner und emeritierter Professor für Theologische Ethik an der Universität Freiburg, bezieht im Interview Stellung zu Fragen, ob eine neue christliche Friedensethik notwendig sei.

Adrian Holderegger, wie erklären Sie sich die weltweite Solidarität mit der Ukraine, die in ihrer Art doch beispiellos ist?

Wir vernehmen täglich aus den Medien, wie sich das ukrainische Volk mit grosser Entschlossenheit und mit dem unbändigen Willen zur Verteidigung der brutalen russischen Übermacht stellt und auch bereit ist, grosse Opfer in Kauf zu nehmen. Die Bilder und Nachrichten, die wir vernehmen, bilden nur einen kleinen Ausschnitt der Brutalität des Angriffskriegs und des unsäglichen Leids. Sie begleiten uns als Albtraum, dem wir begreiflicherweise entfliehen möchten, doch das Geschehen bleibt ständig präsent und legt sich bleiern über unser Gemüt.

Ich glaube, dass nicht zuletzt diese Tatsache, dass sich ein freies, noch junges demokratisches Land mit dem Mut der Verzweiflung wehrt, eine weltweite beispiellose Solidarität ausgelöst hat, begleitet von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Sanktionen gegenüber dem Aggressor.

War man zu lange blind gegenüber einer russischen hegemonialen Politik?

Bereits im Juli 2021 hat der russische Präsident in einem Artikel der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen (On the Historical Unity of Russians und Ukrainians) und in einer Art Geschichtsklitterung deutlich gemacht, dass die Ukraine zur russischen territorialen Identität gehöre. In dieser Logik erkennt man denn auch die Missachtung des Völkerrechts und die Absicht, die Einheit Europas zu schwächen. Wir haben solche und ähnliche Zeichen übersehen und haben der Appeasement-Politik vertraut, eine Politik der Zurückhaltung, der Zugeständnisse, der Beschwichtigung und des Entgegenkommens, des Dialogs und der Diplomatie, um eine Auseinandersetzung mit kriegerischen Mitteln zu vermeiden. Nicht zuletzt galt der Grundsatz: Wandel wird durch Handel herbeigeführt. Dies hat sich als grosse Illusion erwiesen.

Wo stand die christliche Friedensethik vor dem Ukraine-Krieg?

Die allermeisten friedensethischen Positionen gingen von der Idee aus, dass der Krieg zumindest in Europa der Vergangenheit angehöre. Die tiefsitzende Erfahrung der Katastrophe der beiden Weltkriege sass so tief, dass das «Nie wieder Krieg» realistisch erschien. Auch theologisch war man der Überzeugung, dass Frieden niemals mit Gewalt, sondern mur mit der Schaffung gerechter Bedingungen herbeigeführt werden könne. In der Aggression erkannte man den Ausdruck ungerechter Zustände, von Armut, Unterdrückung, politischer Entmündigung. Deshalb lautete die Devise der christlichen Kirchen Deutschlands: weg vom gerechten Krieg, hin zum gerechten Frieden. Denn mit Waffen allein kann man zwar einen Krieg gewinnen, aber keinen Frieden schaffen.

Muss diese friedensethische Position jetzt revidiert werden?

Gerade am Beispiel der Ukraine erkennen wir, dass die entscheidende Bedrohung unseres Friedens in der radikalen Infragestellung des Selbstbestimmungsrechts der Staaten besteht, in der Bedrohung der Demokratie und ihrer Werte, die sie ausmachen: Freiheit, garantierte Grundrechte, Teilhabe an der Macht, Toleranz. Schmerzlich müssen wir nun erkennen, dass autoritäre Regime sich weder an das internationale Recht halten noch sich am internationalen Willen zur Zusammenarbeit beteiligen, sondern machiavellistisch, ungeachtet der menschlichen und materiellen Verluste, ihre eigenen Ziele mit brachialer Gewalt durchsetzen. Dies kommt einer totalen Verweigerung des Dialogs und der Verständigung gleich. Frieden schaffen heisst nun auch: Demokratien schützen und stärken. Und damit muss auch die Frage der Anwendung von staatlicher Gewalt und des Einsatzes militärischer Mittel neu diskutiert werden.

Wie haben sich Kirche und Theologie zur Frage der Gewalt bisher geäussert?

Nehmen wir die wichtige Pastoralkonstitution des Konzils von 1965, «Gaudium et spes», welche das Verhältnis der Kirche zur Welt reflektiert und damit auch ihr Verhältnis zu politischen Konflikten, Aggression und Gewalt. Dort wird ein friedensethischer Pazifismus vertreten, der von der Überzeugung geprägt ist, dass sich zwischenstaatliche Konflikte anders als über internationale Kriege lösen lassen, dass daher der Wille bestimmend sein muss, andere Wege der Konfliktlösung zu suchen, zum Beispiel mit Diplomatie, zivilgesellschaftlichen Friedensaktivitäten, wirtschaftlichen Hilfestellungen. Das kommt einem Paradigmenwechsel gleich. Wegweisende Überlegungen dazu gehen auf Johannes XXIII. zurück, die er in seiner Enzyklika «Pacem in terris» von 1963 formuliert hat.

Welcher friedensethische Ansatz war denn bis dahin in Theologie und kirchlicher Lehre massgebend?

Bis dahin war die Friedensethik bestimmt von der Frage nach dem «gerechten Krieg», wann und unter welchen Umständen und von wem Gewalt angewendet werden dürfe. Friedensethik war – etwas spitz formuliert – Kriegsethik, was nicht eigentlich erstaunt, denn die Gesellschaften bis in die neuere Zeit waren stark gewaltdurchsetzt, in der Periode der Staatenbildung massiv dem Spielball der Interessen und der obrigkeitlichen Willkür ausgesetzt; mit Gewalt und Krieg war man ständig konfrontiert.

Wann ist ein Krieg gerecht?

Die Theorie des «gerechten Krieges» hat ihre theologischen Wurzeln bei Augustinus, wurde von Thomas von Aquin systematisiert und ist bis weit ins 20. Jahrhundert wegleitend und bestimmend geblieben. Mit dem II. Vatikanischen Konzil wird dieses Theoriestück verabschiedet und umformuliert in die Frage nach dem «gerechten Frieden». Dementsprechend wird jeder «totale Krieg», jeder Aggressionskrieg, jede Androhung von Gewalt, jede Aufrüstung als Mittel der Sicherheitspolitik verurteilt; gesetzt wird auf Gewaltprävention, auf Beseitigung der Kriegsursachen und auf die Stärkung der internationalen Institutionen UNO, NATO, Sicherheits- und Menschenrechtsrat, OSZE, WTO. Dieser «Perspektivenwechsel» ist sicherlich ein Meilenstein in der Geschichte der theologischen Friedensethik. Doch wir müssen angesichts der optimistischen, ja messianischen Note dieser Position leider erneut die Bedingungen einer legitimen Gewaltanwendung reflektieren und auf das Traditionsstück des «gerechten Krieges» zurückgreifen.

Die Friedensstrategie war also zu idealistisch gedacht?

Die konziliare Friedensethik setzt auf die Stärkung der internationalen Institutionen im Sinne der Konfliktprävention und -bewältigung. Leider hat es die internationale Politik, aus welchen Gründen auch immer, verpasst, in der Zeit nach dem Kalten Krieg die Architektur einer neuen Weltordnung voranzutreiben und deren tragende Institutionen zu reformieren und zu stärken. Insbesondere ist es nicht gelungen, den Weltsicherheitsrat zu erneuern, denn er bildet nicht mehr die tatsächlichen Kräfteverhältnisse der Welt ab. Vor allem das Vetorecht der Grossmächte, das häufig eine internationale Ausgleichspolitik blockiert und als Instrument einseitiger hegemonialer Vormachtspolitik eingesetzt wird, müsste revidiert werden. Dieses Konzept mag in der Nachkriegszeit seinen Zweck erfüllt haben, ist aber in einer multipolaren Welt nicht mehr zeitgemäss, wo sich die Macht auf viele Entscheidungs-Zentren verteilt. Und schliesslich ist es nicht gelungen, die friedenspolitischen Aktionen unter anderem der UNO, NATO und der OSZE aufeinander abzustimmen und miteinander zu koordinieren. Hier war das Konzil sicherlich zu optimistisch.

Eine christliche Friedensethik braucht doch Leitbilder einer Friedensordnung. Gibt es diese jetzt noch?

Es ist weiter nicht erstaunlich, sondern nur folgerichtig, wenn Papst Franziskus in seiner letzten Enzyklika «Fratelli tutti» von 2020 im Abschnitt über den Frieden die Menschheitsfamilie (Weltgemeinschaft) zum Leitbild und zum Prinzip erhebt, das zur grenzüberschreitenden Geschwisterlichkeit verpflichtet und das Nationen über ihre eigenen Grenzen hinaus in die Pflicht nimmt. Für die Realisierung dieser Grundidee ist es unerlässlich, dass die Regeln der Charta der Vereinen Nationen eingehalten werden, denn sie sind ein verpflichtender Massstab für Gerechtigkeit und ein Werkzeug für den Frieden. Wie seine Vorgänger erkennt Franziskus in der UNO – wie geschwächt sie im Moment auch sein mag – ein Instrument für die Durchsetzung des Friedens als die eines völkerübergreifenden Projekts, das menschen- und völkerrechtlich abgesichert ist. Frieden zwischen den Nationen gibt es nur, wenn die Herrschaft dieses Rechts sichergestellt wird.

Was hat dies noch mit der Friedensbotschaft des Neuen Testaments zu tun?

Der Friede in seiner spirituellen, zwischenmenschlichen und politisch-sozialen Dimension gehört zu den zentralen Themen des Christentums, wie ganz allgemein der Friede in allen Religionen als Ideal eine wesentliche Rolle spielt. Die wesentlichen Aussagen finden sich im Herzstück der biblischen Botschaft, in der Bergpredigt: Jene werden hochgepriesen, die Frieden stiften (Mt. 5,9). Die Überwindung von Bosheit und Gewalt gehört zur zentralen Forderung der Nächstenliebe (Mt 5,43f). Auch kommt in der Predigt Jesu Gewalt als Mittel der Verteidigung nicht infrage (Mt 5,39). Folglich gehört der Gewaltlosigkeit der Vorrang vor allen Mitteln der Gewalt. Ganz in dieser Linie fordert Paulus auf, nach dem zu trachten, was dem Frieden dient (Röm 14,19), und «wenn es möglich ist, so viel es an euch liegt, lebt friedlich mit den Menschen» (Röm 12,18). Hier wird eine Art Gegenbild zum römischen Kaiserreich entworfen, das Menschen, Gruppen und Völker «befriedet» und in Schach hält durch Macht und nötigenfalls mit Gewalt (pax romana). Nein, hier gelten Gewaltlosigkeit und der Einsatz für ein harmonisches, möglichst konfliktfreies Zusammenleben aller.

Ist dies nicht zu idealistisch?

Der neutestamentliche Pazifismus beziehungsweise das Prinzip der Gewaltlosigkeit konnte in den kleinen frühchristlichen Gruppen gelebt werden, Gewaltfreiheit wurde aber in dem Masse zum Problem, als Christen mit dem Staat beziehungsweise mit der weltlichen Obrigkeit kooperieren mussten. Spätestens mit der Konstantinischen Wende im 5. Jahrhundert, als das Christentum staatsbedeutend wurde, stellte sich die Frage, wie die staatliche Autorität im Falle militärisch organisierter Bedrohung mit Gewalt umzugehen habe. Obwohl die christlichen Gemeinden am Prinzip der Gewaltlosigkeit festhielten, war man auch der Überzeugung, dass die staatliche Obrigkeit die Bürger vor Bedrohung und Aggression zu schützen habe, nötigenfalls auch mit Gewalt, aber unter ganz klaren Bedingungen. Hier wurde der Grundstein der Lehre vom «gerechten Krieg» gelegt, der über Jahrhunderte wegweisend in Theologie und kirchlicher Politik war.

Was zeigt dieses historische Beispiel?

Dieses Beispiel will deutlich machen: In einer christlichen Friedensethik hat die Gewaltlosigkeit unzweifelhaft Vorrang vor allen Mitteln der Gewalt. Sie ist ein «regulatives Prinzip», das unser Hadeln bestimmen soll. Sie hat, wie die Beispiele von Franz von Assisi und Mahatma Gandhi zeigen, ihre eigene Plausibilität. Doch in der geschichtlich-konkreten Welt gibt es unheilvolle Verstrickungen, kollektive Bedrohungen und massive Gewaltexzesse, denen nur unter Aufbietung der Mittel der Gewalt zu begegnen ist, nachdem alle anderen Mittel versagt haben. Es ist die Aufgabe der christlichen Sozialethik, diese Regeln situationsangepasst immer wieder neu zu artikulieren, allerdings unter den beiden bleibenden Prämissen: Der Gewaltlosigkeit und dem gewaltlosen Widerstand kommen Vorrang zu; physische Gewaltanwendung ist das äusserste Mittel, wenn alle anderen konfliktlösenden Möglichkeiten versagt haben, und sie hat im Dienst der Wiederherstellung eines legitimen Rechtszustandes im Sinne der Menschenrechte und des Völkerrechts zu stehen. Gewaltlosigkeit und Gewaltanwendung bleiben ein Paradox, ein Skandalon, das seine Wurzeln in unserer unzulänglichen Existenz hat und das nur schwer zu ertragen und zu überwinden ist.