Die Pensionierung als Befreiung

Beat Baumgartner

Seit einem Jahr nun bin ich offiziell AHV-pensioniert. Eine PK-Rente erhalte ich bereits seit vier Jahren. Ich hatte allerdings in dieser Zeit immer noch teilzeitlich gearbeitet. Ein ganzes Berufsleben, fast 40 Jahre lang, war ich als schreibender Journalist tätig, in einem Beruf, in dem man sehr oft auf Draht ist, dauernd unter Spannung, sich immer wieder mit neuen Themen beschäftigen muss und oft von der Angst geprägt wird, dass sich Fehler in die Artikel einschleichen, die einem dann erboste Leserinnen und Leser vorhalten.
Und schliesslich auch die Erkenntnis, dass ich bis heute unter «Schreibstau» leide, nämlich dem Umstand, dass ich vor einem Blatt Papier sitze – heute meist vor dem weissen PC-Bildschirm – und nicht weiss, wie mit Schreiben beginnen. Schreiben fiel mir immer schwer, bis heute …

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Jetzt also kommt die eigentliche Zeit der Pensionierung, die Aussicht auf rund 19 weitere geschenkte Lebensjahre (gemäss Bundesamt für Statistik), endlich befreit von den Zwängen des Berufslebens und des Geldverdienen-Müssens, befreit von bürokratischem Leerlauf, unnötigen und langatmigen Sitzungen und Personal-Entwicklungsgesprächen («Nennen Sie mir vier operationalisierbare Ziele, die Sie nächstes Jahr erreichen werden! – Ihr Bonus hängt davon ab.»), von Arbeiten, die zwar sein müssen, einen aber total langweilen usw.
Endlich sagen und tun können, was man will, aufstehen und schlafen gehen, wie’s beliebt, also eigentlich die totale Freiheit – oder doch nicht?

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Tatsächlich: Die Vorstellung, es werde jetzt alles anders und besser, und vor allem, man – d.h. ich – würde jetzt anders, kann man vergessen. Denn die eigene Persönlichkeit mit all ihren Ecken und Kanten, die eingeschliffenen Gewohnheiten und Macken von 65 Lebensjahren bleiben bestehen. Sie sind veränderungsresistent. Ja, manchmal werden sie sogar ausgeprägter. Denn man ist im Alter nicht mehr den Feedbacks und kritischen Echos des Arbeitsumfeldes ausgesetzt ist.
Zudem kommt die Sorge um den Abbau der körperlichen und geistigen Fähigkeiten.  Es kommen Krankheiten, Operationen und dergleichen mehr hinzu. Und doch stelle ich an mir Veränderungen fest – im Sinne von «befreit zu» – die mich optimistisch stimmen.

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Ich litt zeitlebens unter meinem aufbrausenden «lateinischen» Charakter, geprägt wohl schon im Kleinkindalter durch meine Tessiner Mutter. Der Kampf dagegen war in den letzten Jahrzehnten ziemlich erfolglos. Aber jetzt stelle ich fest, dass ich seit der Pensionierung ruhiger und gelassener werde.
Ich kontere Vorwürfe und Kritiken nicht mehr heftig und lasse sie einfach mal stehen. Und möchte nicht mehr andere von meiner Meinung überzeugen, sondern einfach sagen: Hier stehe ich, das ist meine Überzeugung, sie spricht für sich selbst. Diese Einstellung tut meiner Seele und meiner Gesundheit gut.

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Früher sah mein Alltag immer anders aus. Jeder Tag war unvorhersehbar und nicht steuerbar. Jetzt erhält er eine fast «klösterliche Rhythmisierung». Ich gehe immer zur gleichen Zeit schlafen und stehe immer zur gleichen Zeit auf, lese dann zu einem billigen Pulverkaffee eine Stunde die Zeitung, arbeite am PC, koche das Mittagessen, mache ein Nickerchen, gehe spazieren oder ins Fitness. Nach dem Abendessen spielen wir, lesen wir oder schauen uns einen Film an. Dieser Rhythmus hat etwas sehr Beruhigendes und Besänftigendes.

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Gleichzeitig gibt es Monate, in denen wir unruhig werden, vor allem im Frühjahr und Herbst. Mit unserem Wohnmobil unternehmen wir lange Reisen in Europa. Es ist ein Leben auf engstem Raum, oft Wind und Wetter ausgesetzt.  Wir haben uns vorgenommen, all die schönen Orte und Landschaften Europas abseits der Touristen-Hotspots zu erkunden, von Südeuropa bis in den hohen Norden und rund um die Ostsee.
Von der Vorstellung, Wohnmobilist/innen seien nicht unbedingt die geselligsten und gesprächigsten Zeitgenossen, mussten wir Abstand nehmen. Auf den Campingplätzen haben wir immer wieder spannende und ungewohnte Begegnungen mit Menschen, die wir sonst nicht kennengelernt hätten. Und mit unseren E-Bikes vergrössern wir unseren Erkundungsradius beträchtlich. Wir bleiben nicht nur auf den Campings oder Stellplätzen sitzen.

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Und noch etwas: Ich habe die Langeweile als positives Erlebnis neu kennengelernt. In meinem Arbeitsleben waren die Tage und Wochen, die Monate und Jahre durchgetaktet. Kaum eine freie Minute blieb davon zweckfrei übrig. Jetzt aber ertappe ich mich oft dabei, dass ich einfach dasitze, etwas oder jemandem zuschaue. Meine Gedanken fliessen vor sich hin.
Ich geniesse diese zweck- und sinnlose Langeweile – einen versteckten Sinn hat sie aber sicher. Und manchmal kommen mir dabei sogar die besten Einfälle und Ideen.

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Statistiken zeigen, dass in der Schweiz jährlich über 600 Millionen Stunden institutionalisierte und informelle Freiwilligenarbeit geleistet werden. Dabei engagieren sich die Altersgruppen der 50-70-Jährigen am häufigsten.
Früher haben mich meine freiwilligen Engagements immer etwas gestresst, weil sie in den Randzeiten passieren mussten. Doch heute freue ich mich richtiggehend auf den Lektorendienst in der Kirche, das Chorsingen, das Mitmachen in einer Kommission der Pfarrei oder das Organisieren von Tanzveranstaltungen für Senior/innen.
Ich habe jetzt genügend Zeit dafür. Die persönlichen Kontakte, die aus solchen Engagements entstehen, schätze ich sehr. Denn etwas darf man nicht vergessen: Wer aus dem Berufsleben ausscheidet, verliert einen beträchtlichen Teil seiner regulären persönlichen Kontakte.

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Vor rund 20 Jahren habe ich mich das letzte Mal weitergebildet, in einem Nachdiplomstudium an der Fachhochschule in Luzern. Danach war ich beruflich derart ausgelastet, dass mir für Weiter- oder Fortbildungen keine Zeit mehr blieb.
Jetzt aber wächst in mir die Lust, nochmals die Schulbank zu drücken und eine Weiterbildung zu beginnen. Ich bin mir noch nicht sicher über ihre Stossrichtung und ihren Inhalt.
Mal sehen, was die Zukunft bringt. Ich jedenfalls bin bereit – oder befreit dazu …