Ein halb-leeres Glas

Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern sass sie mir im Sprechzimmer gegenüber und erzählte mit gedämpfter Stimme, dass alles in ihrem Leben mies verlaufe. Eben habe sie ihre Stelle gekündigt, weil sie den Eindruck habe, dass sie ihrem Chef nicht genügen könne. Dasselbe Problem habe sie schon als Kind geplagt, alles immer durchschnittlich unbefriedigend, kaum Spielgefährten, und ihren Eltern hätte sie mit ihren Schulnoten auch nie genügen können. Das ziehe sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Zurzeit sei sie zwar wieder gesund, aber mit ihrer schwachen Konstitution fürchte sie sich vor der nächsten Krankheit. Natürlich habe sie Angst, positiv auf Corona getestet zu werden und traue sich kaum mehr aus dem Haus unter die Leute. Und so klappe es auch mit ihrem Freund nicht mehr richtig.

Vorsichtig fragte ich die Frau, ob dies vielleicht auch eine Frage der Blickrichtung sein könnte, ob sie vielleicht dazu neige, im Leben eher das Negative zu sehen und zu betonen. So, wie wenn sie mit ihrem Freund in ein Restaurant geht und er das halb-volle Glas Wein serviert bekommt, während man ihr ein halb-leeres Glas hinstelle? «Ja, so ist es», meinte sie, «und was kann man da tun?»  

Ich wusste nicht, was ich der Frau raten sollte. Ratschläge können auch Schläge sein. Vielleicht kann Zuhören und vorsichtiges Fragen weiterhelfen, die Dinge im Leben auch von einer anderen Seite zu sehen. Ich jedenfalls bin dankbar, dass ich in den vielen unerwarteten Anforderungen im Leben immer wieder das entdecken kann, was Gott mir auf den Tisch stellt: ein halb-volles Glas.


Willi Anderau

Willi Anderau, geb. 1943. Mitglied des Kapuzinerordens seit 1965. Ausbildung in Theologie und Journalistik an der Universität Fribourg. Lebt im Kapuzinerkloster Wesemlin, Luzern. Er war während 17 Jahren bischöflich Beauftragter für Radio und Fernsehen in der Deutschschweiz. Engagiert sich in der Seelsorge und in kirchenpolitischen Themen.