«Papst Franziskus ist in Tuchfühlung mit den Menschen»

Der Franziskusforscher Niklaus Kuster zum ersten Amtsjahr des Papstes

Luzern, 14.2.14 (Kipa) Am 13. März jährt sich die Amtseinsetzung von Papst Franziskus. Als erster Papst der Geschichte nannte er sich nach Franziskus von Assisi, der im Mittelalter Besitzlosigkeit predigte und sich auch den Aussätzigen zuwandte. Was bedeutet diese Namenswahl im Bezug auf sein Programm? Der Kapuziner und Franziskusforscher Niklaus Kuster hat das erste Amtsjahr des Papstes auf diese Frage hin untersucht, ein Buch dazu erscheint Ende März. Kipa hat den Co-Autor des Buches befragt. Von Sylvia Stam / Kipa

Frage: Herr Kuster, das Buch, das Sie zusammen mit Martina Kreidler-Kos herausgeben, trägt den Titel «Der Mann der Armut – ein Name wird Programm», darunter abgebildet die Köpfe des Papstes und von Franziskus. Wen der beiden meint der Haupttitel?

Niklaus Kuster: Haupttitel und Cover wurden vom Verlag festgelegt. Der Titel ist so formuliert, dass er auf beide Personen zutrifft: Bruder Franz und Papst Franz.

Frage: Was ist typisch für die Spiritualität des Franziskus von Assisi?

Kuster: Franz von Assisi interpretierte Leben und Sendung der Apostel neu in die erwachende bürgerliche Welt des 13. Jahrhunderts. Der Papst nennt selber drei zentrale Kennzeichen, die auch seine Namenswahl motivierten. Erstens:«Tragt Frieden in die Städte und Häuser« (Mt 10). Bruder Franz verstand seine Sendung politisch, intervenierte in städtischen Konflikten und suchte selbst die Kreuzzüge zu beenden. Zweitens: «Heilt Kranke und macht Aussätzige rein« (Mt 10). Bruder Franz stellte sich auf die Seite der Leidenden und Randständigen, begegnete ihnen auf Augenhöhe und führte sie in die Gesellschaft zurück. Und drittens: «Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen» (Mk 16). Der Bruder aus Assisi schaute weit über seine Kirche und die Menschheit hinaus. Sein Sonnengesang besingt die ganze Schöpfung Gottes mit geschwisterlicher Liebe.

Frage: Wo wird der erste Punkt im ersten Amtsjahr von Papst Franziskus sichtbar?

Kuster: Der neue Bischof Roms zeigt sich zunächst friedenspolitisch engagiert. In seiner Weihnachtsansprache verzichtete der Papst auf Grüsse in fünfzig Sprachen, nannte dafür aber in einem Tour d’horizon ebenso einfühlsam wie konkret die aktuellen Krisenherde der Welt und lud ein, mit ihm für alle Betroffenen zu beten. Politik und Glauben verbinden sich da ebenso klarsichtig wie hoffnungsvoll.

Frage: Wo zeigt sich sein Einsatz für Randständige?

Kuster: Der Papst zeigt sich sowohl in Rom und Assisi, aber auch in Lampedusa eindrucksvoll als Freund und Anwalt der Armen. Indem er mit seiner eigenen Solidarität den Blick der Medien auf das Schicksal vielseitiger Formen von Not zieht, spornt er dazu an, offener und verborgener Not in unserem eigenen Umfeld wach und sensibel zu begegnen.

Frage: Papst Franziskus spricht immer wieder von den «Armen«. Ist das nicht ein herablassender Begriff, der eben gerade nicht «auf Augenhöhe» geschieht?

Kuster: Um ein Armer unter Armen zu sein, müsste der Papst auf alles verzichten. Doch dazu wurde er nicht gewählt. Sein Amt ist mit Macht verbunden. Er nutzt diese, um gegen die «Globalisierung der Gleichgültigkeit» anzugehen, sei es im Umgang mit Flüchtlingen in Europa, sei es in Krisenherden wie Syrien, sei es in der wirtschaftlichen Ausbeutung ganzer Länder. Und an der Armenmensa von Assisi, mit Clochards an seinem Geburtstagstisch und mit Kranken in seinen Armen ist der neue Bischof von Rom nicht nur auf Augenhöhe, sondern in Tuchfühlung mit Menschen, die viele von uns im eigenen Alltag auf Distanz halten.

Frage: Kann ein Amtsträger wie der Papst wirklich Franziskus repräsentieren, der Besitzlosigkeit predigte?

Kuster: Er kann und muss es nicht! Denn Jorge Mario Bergoglio wurde nicht gewählt, um Franz von Assisi zu repräsentieren, sondern um die katholische Kirche zu leiten und zu erneuern. Dass er es mit Bruder Franz vor Augen tut, ist ein mutiges und ermutigendes Zeichen. Dass er zudem ein strategisch denkender Jesuit bleibt, ebenso.

Frage: Inwiefern ist er stategisch denkender Jesuit?

Kuster: Für mich zeigt sich das an politisch klugen Massnahmen: Indem er den zuvor so mächtigen Staatssekretär neu zum persönlichen Sekretär seiner Politik macht, aber auch, indem er zwei «Hardliner» an Schlüsselstellen belässt: den Glaubenshüter Gerhard Ludwig Müller und den Präfekten des päpstlichen Hauses, Georg Gänswein – Hoffnungsgestalten konservativer Kreise, auf deren Loyalität der Papst aber zählen kann. Die Knacknuss der Kurienreform wird auf acht externe Kardinäle abgestützt. Der Papst setzt auf die weltweite Breitenwirkung seiner Zeichen.

Frage: Papst Franziskus begeistert durch seine Zugewandtheit zu den Menschen. Viele Katholiken Mitteleuropas warten jedoch auf Reformen in der Doktrin – Stichworte: Stellung der Frau, Pflichtzölibat, Umgang mit Homosexuellen und Geschiedenen. Wird der Papst diese Erwartungen erfüllen?

Kuster: Um nachhaltig zu wirken, muss der Papst auch die Strukturen, das heisst eine Revision von Doktrin und Recht anpacken. Als Franziskaner bin ich froh, dass er zunächst die Praxis verändert. Das Recht wird durch freiere Interpretation an seine Dienstfunktion erinnert und die herrschende Disziplin durch den Blick auf Jesu Praxis relativiert.

Wird den Ortskirchen wie angekündigt mehr Eigenständigkeit eingeräumt, könnte Mitteleuropa in den genannten Fragen endlich mutig vorangehen. Mich ermutigt es sehr, dass der Papst im Apostolischen Schreiben «Evangelii gaudium« zehn nationale Bischofskonferenzen und eine Reihe von Bischofssynoden zitiert, und nur je einmal das Kirchenrecht und den Katechismus. Wenn kontinentale Ortskirchen entschieden die Abkehr von Pflichtzölibat und die Frauenordination fordern, werden das Kirchenrecht und der römische Glaubenshüter noch mehr in Nöte kommen.

Frage: Kann eine solche Wertschätzung nationaler Bischofskonferenzen nicht auch als Bedrohung empfunden werden, wenn man etwa an den Widerstand denkt, der sich derzeit rund um den Churer Bischof Huonder formiert?

Kuster: Unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. sind fortschrittliche Bischofskonferenzen von Rom aus gezielt konservativ bestückt worden. Die dadurch erreichte Polarisierung im Episkopat wird nicht von heute auf morgen überwunden werden. Bischöfe, die bisher in Konflikten mit ihren Kollegen und ihrem Kirchenvolk in Rom Rückhalt suchten, geraten aber bereits in Krise. Wie der Fall Limburg zeigt, scheint die Ära von Hirten, die sich als kleine Monarchen und herrschaftliche Filialleiter Roms in ihren Ortskirchen verstehen, abzulaufen. Zugleich zeigt sich da bereits, welches Gewicht Rom der deutschen Kirche in der Problemlösung gibt.

Frage: Können Sie das erläutern?

Kuster: Im Fall Limburg erhalten zunächst weltliche Gerichte, eine diözesane Untersuchungskommission und die Bischofskonferenz Raum, um die verworrene Situation aus je unterschiedlicher Optik zu klären. Kritische Medien tragen das ihre bei. Der Papst lässt sich vielseitig informieren, handelt nicht voreilig und will seinen Dienst an der Einheit umsichtig ausüben.

Frage: Seit einem Jahr folgen die Weltmedien dem Papst fasziniert. Was halten Sie vom Vorwurf skeptischer Kreise, geschickte mediale Inszenierungen würden nicht ausreichen, um die katholische Kirche von Grund auf zu erneuern?

Kuster: Als Lateinamerikaner geht Papst Franziskus pragmatisch vor: Er vertraut darauf, dass eine neue Praxis sein Amt und in wachsenden Kreisen auch die Kirche verändert. Seine Zeichen und Worte bewegen Millionen und ermutigen weltweit dazu, die «Freude des Evangeliums« auch selber neu zu leben. «Weck den Franziskus in dir», titelte die deutsche Zeitung «Welt« im Dezember und bringt es auf den Punkt!

Dass die Weltmedien dem Papst fasziniert folgen, ist nicht primäre Absicht seiner Gesten, doch Gratiswerbung im besten Sinn. Er weiss diese für sein Programm zu nützen: in Ökumene und Politik, im Sozialen wie in der Reform seiner Kirche – einer Kirche, die nicht primär aus Klerikern besteht und lehrt, sondern sich geschwisterlich versteht und die Menschen liebevoll wahrnimmt, umarmt und auf ihrem Weg ermutigt.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Niklaus Kuster ist Kapuziner und promovierter Theologe, Lehrbeauftragter an den theologischen Fakultäten der Universitäten Freiburg i. Üe. und Luzern sowie an den Ordenshochschulen in Münster und Madrid. Zahlreiche Publikationen zu Franziskus von Assisi und zur franziskanischen Spiritualität.

Das Buch «Der Mann der Armut. Franziskus – ein Name wird Programm», zusammen mit Martina Kreidler-Kos verfasst, wertet das erste Amtsjahr des Papstes aus und erscheint Ende März im Herder-Verlag.