Eine befreiende Kultur des Aufhörens

Wir leben heute in einer Kultur des steten Wandels und des Erneuerns. Dabei stellt sich mehr und mehr die Frage, ob für den echten Fortschritt jeder Schritt, ja sogar jeder Zwischenschritt, jeder Fortschritt überhaupt getan werden soll. Manchmal befreit eine «Kultur des Aufhörens, Wartens, Seinlassens» das persönliche wie das gemeinschaftliche Leben für die Zukunft.
Adrian Müller
Mit einem grossen Fest wird ein öffentliches Gebäude, eine Kirche oder ein Kernkraftwerk eingeweiht. Doch was passiert, wenn es seinen Zweck erfüllt hat. Langsames Vergessen? In Spanien und in Italien werden «ausrangierte» Kirchen oft als Restaurant genutzt. Die neuen Besitzer inszenieren ein grosses Einweihungsfest – wo bleibt der Abschied, das Gedenken, der Dank für die guten Jahre des sakralen Raumes?
Der Bundesrat hat an einem grossen Fest das Kernkraftwerk Gösgen eingeweiht. Was passiert, wenn es abgestellt wird? Stiller Abbau oder auch grosse Feierlichkeiten? Alles Ausdruck heutiger Wegwerfgesellschaft?
Mit Taufe und Firmung, oft aufwändig als Gemeinde- und Familienfest gestaltet, wird ein Mensch feierlich und mit viel Aufwand in die Kirche aufgenommen. Was passiert beim Kirchenaustritt? Abmeldung via Homepage. Dann vielleicht ein netter Brief von der Kirchenbehörde mit der Einladung, wieder einzutreten. Vielleicht sogar ein Anruf von den Seelsorgenden. Doch entspricht dieser karge Abschied dem aufwändigen Eintritt in die Kirchengemeinschaft.
Oder wie steht es mit der Trennung nach einer Hochzeit? Bräuchte diese nicht auch eine öffentliche Bekanntgabe? Ein kirchliches Ritual des Abschieds und des Übergangs? Oder ist mit einer Wiederheirat alles getan? Wo bleibt die Dankbarkeit für das Vergangene? Der Abschluss? Freundschaften und Liebschaften zum Wegwerfen?
Unnötige Leitungen?
In viele alte, denkmalgeschützte Häuser und Klöster wurden zuerst fürs Festnetztelefon aufwändige gut sichtbare Leitungen gelegt, später dann weitere Leitungen für WLAN und am Schluss noch sehr störend an der Decke die Leitungen für die Feuermeldeanlage. Häufig ästhetisch eine Schande.
Und dann gibt es da die Erfahrung im Süden der Erde. Viele Länder haben schon gar nie Leitungen für ein Festnetztelefon gezogen. Da ging es direkt ohne Festnetztelefon zu den Handyantennen. WLAN und Feuermeldeanlagen funktionieren heute auch bei uns via Funk.
Visuell zeigt sich dieses Leitungsthema auch bei den Hochspannungsleitungen, die unsere Alpen «zieren». Mit einem Loch unten durch – gewiss viel teurer, was aber auch einige Arbeitsplätze schaffen würde – sähe man die unberührte Natur (wieder) in ihrer vollen Pracht. Für die Zukunft besteht die Hoffnung nach befreiten Gebäuden und einer «unberührten» Natur. Je schneller, desto besser. Doch müsste man manchmal vielleicht etwas warten sowie reifen lassen und nicht so schnell handeln? Das bedeutet, auf die wirklich guten Lösungen warten.
Braucht es all diese Umwege?
Diese Frage stellt sich heute immer drängender. Müsste man besser etwas warten, vorausschauen und anders vorgehen um Umwege, Naturzerstörung usw. zu vermeiden. Die Schweiz scheint in einen Elektrizitätsnotstand zu kommen. Müssen jetzt Kernkraftwerke oder sogar neu auch Gaswerke gebaut werden bis Wasser und Wind den nötigen Strom produzieren können? Ach ja, etwas weniger Energie verbrauchen, wäre ja auch eine Möglichkeit. Askese muss nicht nur mit dem Essen zu tun haben. Und wenn schon, dann Investitionen in die Sonnen- und Windenergie.
Harald Welzer schreibt in seinem Buch Nachruf auf mich selbst: «Unsere Kultur hat kein Konzept vom Aufhören. Deshalb baut sie Autobahnen und Flughäfen für Zukünfte, in denen es keine Autos und Flughäfen mehr geben wird. Und versucht, unsere Zukunftsprobleme durch Optimierung zu lösen, obwohl ein optimiertes Falsches immer noch falsch ist. Damit verbaut sie viele Möglichkeiten, das Leben durch Weglassen und Aufhören besser zu machen» (S. 278).
«Wir bräuchten in diesem Sinn ein Kulturmodell, in dem die Schönheit des Aufhörens den Stellenwert bekommt, der für die Fortsetzung des zivilisatorischen Projekts notwendig ist. Noch einmal: Die Verbesserung, gar Optimierung von Prozessen, die in die falsche Richtung laufen, verschlimmernt alles. Aufhören tut not, man muss es als menschliche Kulturtechnik wieder lernen. Damit man auch wieder beginnen kann.» (S. 132)
Geschichten vom Aufhören und vom Leben
Dies ist der Titel des zweiten Kapitels im Buch Nachruf auf mich selbst. Vor allem Kapuziner und franziskanisch bewegte Menschen werden bei einem solchen Titel zuerst an Franz von Assisi und seine Geschwister denken. Diese starteten im 13. Jahrhundert mit einer Kultur des Aufhörens, um damit das Leben zu vertiefen und zu intensivieren.
Damals hiess das, kein Geld annehmen, wie auch keinen Besitz und keine kirchlichen Vorteile fordern und akzeptieren. Dafür aber Geschwisterlichkeit und Verankerung in der Gottesbeziehung leben. Gerne nennen franziskanische Menschen an dieser Stelle auch die Naturverbundenheit eines Franz von Assisi, anstelle deren Beherrschung und Zerstörung.
Dieses Aufhören und so befreite Leben heute kann auch im säkularen Leben unterschiedlichste Bedeutungen erhalten. Harald Welzer findet solche Befreiung im Leben von Reinhold Messner, Jan Vermeer von Delft, Tino Sehgals, Jan und Tim Edler, Johannes Heimrath, Katja Baumgarten, Thomas Kessler, Christiane zu Salm, Hans-Dietrich Reckhaus, Peter Sillem, Klaus Wiegandt und Slicky Baby. Darin beschreibt der Autor Menschen, die im richtigen Moment im Leben aufhören, umsatteln und neue, bessere Wege gehen.
Tweets von Papst Franziskus
Papst Franziskus twittert regelmässig. Im Folgenden einige Botschaften, die einem befreiten Leben, einer Kultur des Aufhörens dienen könnten. Am 28. September 2021 twitterte @Pontifex.de: «Die christliche Spiritualität empfiehlt eine Einfachheit, die es erlaubt, die kleinen Dinge zu geniessen und für die Möglichkeiten zu danken, die das Leben bietet, ohne dass wir uns an das klammern, was wir haben oder über das traurig sind, was wir nicht haben.»
Und: «In diesen Zeiten der Krise – gesundheitlich, sozial und ökologisch – denken wir darüber nach, wie schädlich unser Umgang mit vielen materiellen Gütern für die Erde oft ist. Entscheiden wir uns für einen einfacheren Lebensstil, der die Schöpfung respektiert.»
3. September 2020: «Heute mahnt uns die beunruhigte Stimme der Schöpfung, an den uns eigentlich zukommenden Platz in der natürlichen Ordnung zurückzukehren und uns daran zu erinnern, dass wir ein Teil und nicht etwa die Herren des grossen Lebenszusammenhanges sind.» 9. September 2020: «Unser gemeinsames Haus, die Schöpfung, ist nicht nur eine reine ‹Ressource›. Die Geschöpfe haben einen Wert an sich und spiegeln, jedes auf seine Art, einen Strahl der unendlichen Weisheit und Güte Gottes wider.»