Eine Kirche für alle

Es verdirbt den missionarischen Anspruch, wenn Gemeinden den Eindruck erwecken, in ihnen zähle man nur, wenn man «eine weisse Weste hat». Und wer hat die schon!

Jesus trat nicht auf, um die Menschen zu sanktionieren, er nahm sie bedingungslos an. Nicht um sie da stehen zu lassen, wo sie standen, sondern um ihnen aus der Erfahrung des Angenommenseins die grösseren Möglichkeiten ihres Lebens unter dem Zuspruch der Liebe Gottes aufgehen zu lassen.

So sollte auch das missionarische Kirchesein operieren. Aus der bedingungslosen Annahme von Lebensbedingungen und Lebenswegen emergiert die Möglichkeit zu anderen, neuen Schritten.

In dem Zusammenhang bedauere ich, dass das in der deutschen Öffentlichkeit breit rezipierte Milieuhandbuch «Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005» den Eindruck erweckt, als hätte das Volk Gottes aussichtsreich nur noch zu tun mit «Konservativen», mit «Traditionsverwurzelten» und mit der «Bürgerlichen Mitte», mit anderen Milieus aber nicht mehr. Man muss aber sehen, dass auch andere im Milieuhandbuch ausgewiesene Lebensmilieus wie die «Etablierten», die «Postmateriellen», die «Modernen Performer», die «Experimentalisten» oder die «Hedonisten» Lebenserfahrungen machen und von anderen abweichenden Prioritäten setzen, die man zum geistlichen Schatz von Gemeinden zählen sollte. Die Offenheit für das wirkliche Leben gehört zum Status des missionarischen Volkes Gottes.

Entscheidend ist nicht, Wissensbestände des christlichen Glaubens zu vermitteln, sondern in den eben genannten Bereichen als Zeuge des im Licht des Evangeliums möglichen Lebens aufzutreten. In unserer Zeit sind eher Zeugen vonnöten als Lehrer, ist Erfahrung stärker gefragt als Doktrin, zählen Leben und Tatsachen mehr als Theorien.

Das missionarische Volk Gottes sollte sich weniger auf das Phänomen des Atheismus und der Säkularisierung fokussieren, sondern mehr auf den religiösen Pluralismus, der überall zu greifen ist. Es sollte sich fokussieren auf die Sinnsuche der Menschen. Mit dem Ende der zumindest abendländischen Fortschrittseuphorie und der Lösungskompetenzen der säkularen Vernunft angesichts der heutigen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Welthunger, Energieversorgung, lokale und regionale Krisenherde meldet sich die nie ganz stillstellbare Wirklichkeit des religiösen Feldes wieder deutlicher zu Wort. Dieses Feld mit auf zu spüren, ihm die Richtung zu geben, dass Menschen beginnen, die Fragestellungen ihres Lebens im Licht des Evangeliums zu sehen, auch darin sehe ich einen methodischen Schritt der missionarischen Kirche heute.

Stefan Knobloch, Kapuziner
Ehem. Professor für Pastoraltheologie in Mainz

Bei diesem Text und den vorausgehenden des Autors handelt es sich um eine Vorlesung, die er an der Uni Luzern an einem Seminartag gehalten hat. Der vollständige Beitrag findet sich im Tagungsbericht:

Kirche als Mission
herausgegeben von Christoph Gellner und Arnd Bünker
TVZ Zürich. 2011