Freie Hände und innere Freiheit (Franz von Assisi)

Befreit leben kann nur, wer Unfreiheit überwindet. Franz von Assisi hat im Lauf seines Lebens viele Formen von Befreiung erlebt. Sein Leben beginnt in einer politisch unfreien Stadt. Er erlebt den Morgen der heutigen «freien Welt» und findet zu einer geschwisterlichen Weite ohne Grenzen.
Niklaus Kuster
Eine Stadt im Freiheitstaumel
Noch heute erinnert die mächtige Burgruine über Assisi an fremde Herren. Als Franz geboren wurde, bestimmte Friedrich Barbarossa die Geschicke der kleinen Stadt. In der Burg hauste der Rottweiler Graf Konrad von Urslingen. Als 1198 ein Machtvakuum eintrat, stürmte Assisi die Stauferburg.
Franz erlebte die politische Befreiung als junger Kaufmann. Die Stadt gab sich eine demokratische Ordnung. Die Volksversammlung wählte jährlich zwei Konsuln und fällte alle wichtigen Entscheidungen. Doch dauerte die Freude über die neue Freiheit nur kurz. Die zwanzig Adelsfamilien fanden sich nicht ab mit der Gleichstellung der Unterschicht.
Es kam zum Bürgerkrieg, der sich zum Städtekrieg gegen Perugia ausweitete. Zwölf Jahre dauerten die Konflikte, bis die «Charta concordiae» eine dauerhafte demokratische Ordnung schuf.
Eine erste Lehre dieser Geschichte: Demokratie lässt sich als faires Zusammenspiel freier Menschen nicht verordnen. Sie muss breit abgestützt werden und braucht Reifezeit.
Aus dem Kerker befreit
Während Assisis politische Freiheit der inneren Polarisierung zum Opfer fiel, erlebte Franz ein persönliches Fiasko. Sein ehrgeiziger Traum vom Aufstieg in den Ritterstand führte ihn in den Krieg gegen Perugia: ins Debakel einer Schlacht und in Kriegsgefangenschaft. Ein volles Jahr verbrachte er mit anderen Überlebenden in einem Verlies, unterernährt, dem Psychoterror des Feindes ausgesetzt.
Als Franz nach zwölf Monaten freikam, zwang ihn eine Krankheit monatelag ins Bett. Als er wieder bei Kräften ins Leben der Stadt zurückkehrte, erschrak der junge Modeexperte. Das geliebte Assisi und das bunte Treiben auf dem Hauptplatz zeigten sich ihm farblos, grau in grau.
Zeichen einer Depression? Eine posttraumatische Belastungsstörung? Oder verlorene Lebensfreude nach all den Erschütterungen? Zeichen einer tiefen Sinnkrise? Eine zweite Lehre dieser Geschichte: Äusserer Glanz bringt noch lange nicht innere Freiheit.
Freie Bürger auf Kosten anderer
Es dauerte zwei Jahre, bis Franz sich aus seiner inneren Krise befreite. Äusserlich schien sein Leben erfolgreich wie vor dem Krieg. Er ritt auf Märkte, schmiedete Businesspläne mit dem Vater und feierte Feste mit Freunden. Doch trieb ihn die seelische Unruhe öfter vor die Stadt. Der Blick von aussen auf seine Alltagswelt zeigte, auf wessen Kosten Assisi sich politisch und wirtschaftlich entwickelte.
Die bürgerliche Freiheit endete an den Stadtmauern. Den Bauernfamilien blieben Freiheitsrechte versagt. Sie schufteten nun unter dem Joch der städtischen Herrschaft. In Assisi selbst waren nur die Männer frei. Frauen hatten kein Mitbestimmungsrecht.
Bürger blieb nur, wer durch Grundbesitz, Handwerk oder Handel genug Einkünfte hatte, um sich ein Haus zu leisten. Wer seine Arbeit verlor, durch Unfall oder Krankheit nicht mehr leistungsfähig war, ohne Nachkommen betagt wurde und sich in der Not nicht auf Verwandte stützen konnte, fiel sozial durch die Maschen.
Der wirtschaftliche Boom Assisis brachte neue Formen von Armut hervor. Eine dritte Lehre: Die Freiheit der einen kann Unfreiheit anderer bedeuten. Gerade in der selbsterklärten «freien Welt» geht die Schere zwischen Reichen und Armen auseinander.
Beherzte Offenheit
Franz machte unter Unfreien auf dem Land befreiende Erfahrungen. Menschen am Rand öffneten ihm die Augen für das Gefälle zwischen Stadt und Land, für die Kluft zwischen Arm und Reich, für die Not vor den Stadtmauern, die Privilegierte schützten und Benachteiligte ausschlossen.
Erfahrungen mit Aussätzigen führten zu einer ersten Wende im Leben des Kaufmanns. Das Zusammentreffen mit einem Leprosen wühlte das Mitglied der führenden Zunft derart auf, dass Franz später bekennt: «In der Begegnung mit Aussätzigen ist mein Herz erwacht.» Offenheit für den Menschen, der den Weg kreuzt und dessen Not zum Himmel schreit, weckte in Franz eine Liebe, die er in der Stadt, seiner Zunft und seinem Freundeskreis noch nie empfand.
Mit der neuen inneren Wachheit machte Franz bald darauf auch ungeahnte Gotteserfahrungen. Wähnte er den «Höchsten» bisher als Weltenherrscher fern und glanzvoll über dieser Welt, erwartete ihn im Kirchlein San Damiano ein Ikonenkreuz, das den Gottessohn ganz menschlich zeigt: auf Augenhöhe, mit offenen Augen, einem offenen Ohr, offenen Armen und einem offenen Herz. Christus ist gekreuzigt auferstanden dargestellt: mit einer Liebe, die sich auch festgenagelt freier zeigt als der blinde Hass der Hohepriester, und mit einem Leben, das sich stärker erweist als der Tod.
Eine vierte Lehre dieser Geschichte: Ein waches Herz gewinnt die Freiheit, jedem Menschen offen zu begegnen und Gottes Spuren in dieser Welt zu lesen.
Frei wie ein Schmetterling
Nach diesen Erfahrungen steigt Franz aus. Er befreit sich vom Karrieredenken seiner jungen Jahre und vom Masterplan seiner Familie. Er bricht mit der hartherzigen Politik seiner Zunft und lässt eine Stadt hinter sich, deren Freiheit nur Privilegierten gilt.
Das Fresko der Giottoschule, das die Selbstenterbung des Kaufmannssohnes zeigt, spricht symbolstark: Der zornige Vater krallt sich die Kleider, die an einen leeren Kokon erinnern. Franz steht splitternackt, vom Bischof notdürftig geschützt, wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling unter der Sonne – in einer ganz frischen, noch sehr verletzlichen Freiheit.
Sprengen Schmetterlinge ihren Kokon nicht und lernen sie nicht fliegen, gehen sie zugrunde. Dasselbe wäre wohl mit Franz menschlich passiert, hätte er den Aufbruch nicht gewagt.
Eine fünfte Lehre dieser Geschichte: Persönliche Freiheit ist ein Risiko, das Mut braucht, exponiert und verletzlich macht.
Freie Hände können teilen
Franz lebt nun vor den Stadtmauern und baut das Kirchlein von San Damiano wieder auf. Erzählungen, das Kreuzbild hätte den Auftrag dazu erteilt, haben Theologen 40 Jahre später erfunden. Kein Befehl leitet dieses Tun, sondern die Fantasie eines dankbaren Herzens.
Franz gibt der Ikone des «armen Christus» im Kirchlein, das ihm Gottes liebende Zuwendung zeigte, wieder ein Dach über den Kopf. Er tut es zusammen mit Randständigen, mit denen er Steine zusammenfügt und Brot teilt. Zugleich nutzt er den Freiraum von zwei Jahren, um die Freiheit leerer Hände zu entdecken.
Eine sechste Lehre dieser Geschichte: Verbinden sich leere Hände mit wachen Augen und mutigen Füssen, entdecken sie eine Freiheit, die nicht mehr um das eigene Ich kreist und im Teilen gewinnt.
Geschwisterliche Freiheit
Zwei Jahre vergehen, bis Franz seine neue Berufung erkennt: wie die Freunde Jesu damals mit leeren Händen Frieden in die Dörfer und Städte zu tragen. Franz tut es als neuer Jünger Jesu. Er arbeitet mit Bauern und in Bürgerhäusern, vermittelt in Konflikten und lässt die befreiende Botschaft Jesu in den Alltag seiner Landsleute sprechen.
Bald schliessen sich Gefährten an. Sie stammen aus allen Schichten, aus Stadt und Land, aus dem Adel, Bürgerfamilien, dem Arbeiterstand und von Bauernhöfen. Gemeinsam beherzigen sie, dass Gott der Vater aller Menschen ist und sie einander Brüder sind: unabhängig von Herkunft und Bildung. 1211 kommen Schwestern dazu.
Die neue «fraternitas» fordert sozial wie kirchlich heraus. Sie überwindet Standesdenken und lässt Hierarchien hinter sich.
Eine siebte Lehre dieser Geschichte: Das nationale Programm der französischen Revolution bleibt hinter einer Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit zurück, die sich dem Evangelium verdanken.
Befreiende Grenzüberquerungen
Die neue fraternitas entwickelt eine Dynamik, die mehrere Grenzen überquert. Sie zieht bald Kreise über die eigene Region hinaus, wagt sich in Neuland und trägt ihre Vision einer geschwisterlichen Gesellschaft und Kirche bis nach Rom. Dort erkennt Papst Innozenz III. die Kraft in dieser Basisinitiative und erlaubt den Brüdern, sich an «urbi et orbi» zu wenden: an die Stadt (Rom) und den ganzen Erdkreis. Schon der Auferstandene sandte nach Ostern seine Jünger «in alle Welt», um die Friedensbotschaft des «Evangeliums allen Geschöpfen zu verkünden».
Die Brüder ziehen in die vier Himmelsrichtungen los. Sie erreichen früh die Regionen Italiens von Sizilien bis zu den Alpen, brechen 1217 zum Atlantik, nach Nordafrika, über die Alpen und bis in den Orient auf. Dabei beherzigen sie, dass Gottes Reich keine Grenzen kennt.
Als Franz mit einer Friedensmission in den Fünften Kreuzzug eingreift, entdeckt er in einer andern Religion Menschenliebe und Gottesfreundschaft.
Eine achte Lehre: Papst Franziskus beruft sich in seiner Enzyklika «Fratelli tutti» über die Geschwisterlichkeit aller Menschen zu Recht auf Franz von Assisi und seine Lesart des Evangeliums.
Wahre innere Freiheit
In der Erzählung «von der wahren Freude» schildert Franz viele wünschenswerte Erfolge. Den grössten Erfolg eines Menschen sieht er jedoch darin, in zwischenmenschlichen Stresssituationen und Konflikten die Fassung nicht zu verlieren. Wer sich nicht von der Aggression anderer fremdbestimmen lässt und die Geduld nicht verliert, bleibt handlungsfähig und bewahrt die Freiheit, befreiend zu reagieren.
Eine neunte Lehre: Wahrhaft frei sind Menschen, die auch in hektischen und emotional gespannten Situationen innerlich frei und handlungsfähig bleiben.
Freie Schritte mit Schwester Tod
Eine letzte Freiheit zeigt Franz mit 44 Jahren im Sterben. Als seine Brüder und seine Freundin Jacoba den Sterbenden loslassen müssen, grüsst dieser herzlich seine «Schwester Tod» im Vertrauen darauf, dass sie ihn in Gottes neue Schöpfung und vor seinen Schöpfer führen wird. Franz war sich gewiss, nach dem Pilgerweg des Lebens das Ziel aller Wege zu erreichen.
Eine zehnte Lehre: Menschliche Freiheit wächst selbst im und durch den Tod.