Kirchenasyl: Die Würde zurückgeben

Ein Kommentar von Jeremias Borgards, Kapuziner in Deutschland

Viel wird in diesen Tagen über Kirchenasyl diskutiert: Christ*innen erfüllen mit dem Gewähren von Kirchenasyl in speziellen Fällen die Anforderungen Jesu. Es ist elementarer Teil der kirchlichen Praxis von Solidarität mit Armen und Unterdrückten. In den letzten Jahren wurden in verschiedenen Klöstern der Kapuziner Asylsuchende aufgenommen.

Ein Vater flieht aus Syrien. Er flieht mit seinen zwei gerade volljährigen Töchtern vor Daesh, der Terrorgruppe, die bei uns als Islamischer Staat bekannt ist. Er lässt seine Frau und den jüngeren Sohn zurück, um die beiden Töchter vor Vergewaltigung und Verschleppung zu schützen. Es ist eine unendlich schwere Entscheidung. Aber er geht davon aus, dass seine Frau nicht vergewaltigt und sein junger Sohn zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Militär oder zu Daesh rekrutiert wird.

Er flieht und kommt mit seinen Töchtern nach Ungarn. Dort wird er mit seinen Töchtern ins Gefängnis gesteckt. Es geschieht genau das, was der Grund für ihre Flucht war: die Töchter werden vergewaltigt. Im Gefängnis, zu dem nur die Wärter Zugang haben. Anschließend fliehen die drei nach diesen qualvollen Erfahrungen des Missbrauchs nach Deutschland. Und dort? Sie erhalten keine Hilfe, im Gegenteil. Aufgrund der Dublin-Verordnung will sie der deutsche Staat wieder nach Ungarn, in das Land ihrer Vergewaltiger, rückführen!

Diese Geschichte ist so passiert. Und sie ist ein ganz konkretes Beispiel für einen Fall, der zu einem Kirchenasyl führte.

Genau hier setzt die Idee des Kirchenasyls an: Die Kirche hilft Menschen, denen durch offizielle, aber in diesem speziellen Fall unmenschliche Gesetzgebung, ihre Würde geraubt zu werden droht. Kirchenasyl hilft dabei nicht nur den betroffenen Menschen, sondern auch dem Staat, in dem es verhindert, dass die Anwendung rechtsstaatlicher Mittel wie in diesem Fall zu direkten oder indirekten Menschenrechtsverletzungen durch den Staat führt. Es geht darum, den Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK («Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person») zu wahren.

In der Sprache der Gerichte werden diese Menschenrechtsverletzungen, und wir reden hier nur von solchen, die innerhalb der Grenzen der Europäischen Union geschehen, meist als systemische Mängel bezeichnet. Es gibt dazu verschiedene Urteile, die nicht nur Ungarn, sondern auch andere EU-Länder betreffen. So geht das BVerfG in seinem Urteil vom 10. Oktober 2019 zum Beispiel davon aus, dass die Unterbringung von Familien in Italien «im Entscheidungszeitraum möglicherweise von systemischen Mängeln geprägt war». Und im Leitsatz des VGH Hessen steht zum Beschluss vom 24. August 2017: «Das ungarische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen leiden derzeit an systemischen Mängeln.» Von den Gerichten werden u. a. immer wieder im Zusammenhang mit systemischen Mängeln die Länder Italien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien genannt.

Laut EMRK und für mich als Christ steht fest: Es darf niemand in eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung rücküberführt werden! Im Normalfall wird Menschen Kirchenasyl gewährt, die durch die Bundesrepublik Deutschland und ihre Behörden genau in eine solche Situation rücküberführt werden sollen.

Kirchenasyl ist eine Form des Menschenrechtsschutzes. Es ist ein Teil der kirchlichen Praxis von Solidarität und Option für die Armen. Anders gesagt: Kirchenasyl ist Teil der Positionierung gegen globale Ungerechtigkeit, des prophetischen sowie öffentlichen und zeichenhaften Handelns und des messianischen Gesetzesverständnisses.

Christ*innen erfüllen mit dem Gewähren von Kirchenasyl in diesen speziellen Fällen die Anforderungen Jesu, die sich aus seinen Worten vom Weltgericht im Matthäusevangelium (25.31-46) ergeben. Der Text ist eine Aufforderung, denen ihre Würde durch menschliche Zuwendung wiederzugeben oder zu bewahren, denen sie von anderen oder widrigen Umständen geraubt wurde oder geraubt werden könnte.

Kirchenasyl ist schon aus dem Alten Testament bekannt. Zwar hat es sich immer wieder im Laufe der Zeit verändert, doch eines bleibt: die Sorge, in diesem Falle der Christ*innen, um die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Würde leidender oder ungerecht behandelter Menschen.