Suche nach einer anderen Sozialform der Kirche

Unterwegssein, Wachsen, Schwanken und Suchen: Was ist wichtig für den Glauben? Der Kapuziner Stefan Knobloch im Gespräch

über Glaubens- und Kirchenkrisen, Individualisierung und ein Leben in Freiheit. 

Br. Stefan, immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Sehen wir eine Glaubenskrise?

Br. Stefan Knobloch: Nein. Das ist weniger eine Glaubenskrise als vielmehr eine Krise der Kirche als Institution. Das zeigt sich in den letzten Jahren an der Vielzahl der Austritte. Es entsteht bei vielen Leuten eine Enttäuschung bis in den Kern der Gemeinden hinein. Eine Enttäuschung über die Vorgänge in der Kirche. Das ist für mich kein Abschied vom Glauben, sondern eine Suche nach einer anderen Sozialform des Glaubens, des gemeinsamen Glaubens. Die heutige Kirchenkrise spricht das Glaubenspotenzial des Menschen eher positiv an, es versinkt nicht im Graben.

Was ist denn das Problem der Kirche? 

Die Kirche ist zu wenig auf dem Weg, sich an Jesus zu orientieren. Sie ist nicht „evangelisch“ genug. Das hängt mit dem ungeklärten Verhältnis von Tradition und Gegenwart zusammen.

Kirche hat sich immer verändert im Laufe der Geschichte. 

Ja, das schon. Aber oft nur in sehr äußerlichen Formen. Heute werden Pfarreien aufgelöst, zusammengelegt, die Kirchen werden leerer, wir haben zu wenig Priester für heute. Es braucht Mut zu neuen Schritten, denn es gibt keine Kontinuität im Glauben ohne Diskontinuitäten. Identität wird gewonnen über Abbrüche und Umbrüche. Daran fehlt es.

Ich verpuffe im Tod nicht in Nichts. Ich bin persönlich angesprochen und versuche mit allem, was ich bin, auf Gott zu bauen.

Wie hört man denn auf die Zeichen der Zeit, ohne alles wegzuwerfen? 

Diese Frage scheint mir ein gewisses Misstrauen in Veränderungen an sich zu haben. Es gibt keinen besseren Text als den in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, der die Frage so beantwortet: Das Volk Gottes bemüht sich in den Ereignissen, in den Bedürfnissen, in den Wünschen der Menschen den Willen Gottes zu erkennen. Es geht um das reale Leben! Aus ihm sprechen die Zeichen der Zeit! Zeichen der Zeit, Heilige Schrift, Tradition, das sind keine Gegensätze, sondern sie verbinden sich zu einem Weg, den wir gehen müssen.

Haben Sie Hoffnung für die Kirche, dass sie diesen Weg geht?

Ich habe Hoffnung, denn ich bin ein optimistischer Mensch. Auch wenn die momentane Lage das eher nicht hergibt.

Was macht diese Krise mit Ihrem persönlichen Glauben, Br. Stefan?

Das ist eine gute Frage. Ich bin in meinem Leben auf einem Weg unterwegs, bei dem ich angenommen bin. Ich verpuffe im Tod nicht in Nichts. Ich bin persönlich angesprochen und versuche mit allem, was ich bin, auf Gott zu bauen. Das gibt mir eine Grundhoffnung. Aber fest steht auch: Wie ich meinen Glauben definiere, das könnte für einen anderen ein sehr dürrer Glaube sein.

Welche Fragen stellen Sie sich in Bezug auf Ihren Glauben?

Es geht erst einmal darum zu verstehen, wonach Sie mich da fragen. Unsere Sprache spiegelt ja nicht einfach die Wirklichkeit, sie bildet nicht einmal unsere natürliche Welt hinreichend ab. Erst recht gilt das, wenn ich sage: „Ich glaube, dass Jesus der Sohn Gottes ist“. Dann treffe ich damit kaum das, was es inhaltlich zu sagen in Anspruch nimmt. Dazwischen liegen Welten.

Geht es dann weniger um doktrinales Glaubenswissen als vielmehr um das Vertrauen ins Leben?

Ja. Doktrinal heißt: Es ist alles ausgesagt und formuliert, woran sich der Glaube hält. Das trifft aber nicht den Kern des Glaubens. Ich habe keinen Anspruch, von mir her Gott doktrinal zu begreifen. Das Verhältnis Gott und Mensch ist ein Vertrauensverhältnis, aber nicht so, als stünden sich hier zwei Personen gegenüber. Mein Person-Sein wird von Gott umfasst und ermöglicht so erst mein Gegenübersein zu Gott. Da verquickt sich etwas. Gleichwohl sind alle unsere Aussagen über Gott, auch die im Glauben formulierten, sehr menschlich.

Glaube ist keine abgeschlossene Größe. So wie ich mich selber verändere, so verändert sich mit meinem Leben auch mein Glaube.

Viele Gläubige sagen heute: Worüber die Kirche spricht, hat nichts mit meinem Leben zu tun.

Das ist so, und ich verstehe das. Aber ich möchte es eigentlich umdrehen: Kirche ist nicht zuerst eine Institution, die Regeln aufstellt. Kirche besteht aus Gläubigen. Wenn Gläubige also ein Sexualleben leben, das den Vorgaben der Institution Kirche nicht entspricht, dann heißt das nicht, dass sie nicht als Kirche leben. Sie sind Kirche, und was sie leben, das ist eine Form, den Glauben zu leben und ihn weiterzuentwickeln.

Fühlen Sie sich wohl in dieser Kirche?

Ich hätte gar keinen anderen Lebensraum. Je älter ich werde, desto mehr identifiziere ich mich mit meinem Leben. So wie ich hier sitze, fange ich nicht mehr an, etwas Neues zu suchen, noch dazu nach der Entwicklung, die ich hinter mir habe. Ich merke auch, dass ich vieles von mir fernhalte, auch zum Schutz.

Wie steht es um den Glauben in der Gesellschaft?

Ich glaube, er wird vielfach unterschätzt. Glaube besteht nicht nur darin, dass man über Glaubenswahrheiten sprechen kann. Viele sind auf der Suche, auf der Suche nach Gott. Und Papst Franziskus hatte Recht, als er sagte, man könne Gott auf den Straßen, auf den Plätzen der Welt, in den Mega-Cities der säkularen Gesellschaften finden.

Ich fühle mich frei. Diese Freiheit ist ein Geschenk Gottes.

Ist die immer stärker werdende Individualisierung ein Problem?

Das ist in unseren Verhältnissen sicher eine Komponente. Aber das stellt sich kulturell ganz unterschiedlich dar. In manchen Kulturen ist die Wir-Komponente viel stärker im Blick als in unserem abendländischen Raum. Aber auch da findet der Mensch Wege, stellt er Fragen, auch wenn er die nicht ausdrücklich als Fragen nach Gott und nach dem Glauben wahrnimmt. Wenn umgekehrt der Glaube sich eher in einer negativen Formengestalt zeigt, dann nimmt es nicht wunder, wenn manche sagen, damit wollen sie nichts zu tun haben. Das sagt wenig darüber aus, wie das Verhältnis des Einzelnen zu Gott ist.

Ist die eigene Glaubenserfahrung heute wichtiger als früher?

Ja, den Eindruck habe ich. Früher schien aus dem gemeinsamen Gehabe eine persönliche Bezugnahme vielleicht weniger notwendig. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob es tatsächlich so war. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass Menschen früher aus bloßer Gewohnheit ihren Glauben „lebten“ und sich damit innerlich abgefunden haben.

Was bedeutet die Individualisierung für die Seelsorge?

Sie ist eine große Anforderung für Seelsorger: Nehmt die Menschen in ihrer Individualität ernst! Es geht nicht darum, mit der Stola zu kommen und zu meinen, den rechten Glauben zu bringen. Sondern es geht darum, den Menschen ernst zu nehmen und sich dafür zu interessieren, wie er tickt, was er denkt, von welcher Substanz er lebt und wonach er auf der Suche ist.

Ist diese Suche, die sie ansprechen, wichtig für den Glauben? 

Ja, ich nenne das „prozessualen Glauben“. Es geht um das Unterwegssein, das Wachsen, Schwanken und Suchen. Glaube ist keine abgeschlossene Größe. So wie ich mich selber verändere, so verändert sich mit meinem Leben auch mein Glaube.

Was bedeutet die Freiheit in diesem Zusammenhang?

Die Freiheit ist das eigentliche Ziel des Glaubens. Jeder ist gebunden: an eigene Gewohnheiten, an eigene Verhärtungen. Gewohnheiten haben immer zwei Seiten: sie können einen fesseln, aber auch das tägliche Leben erleichtern. Freiheit ist das eigentliche Ziel des Lebens. Frei zu sein in einer Freiheit, die für uns zugleich unerreichbar ist, die uns in Jesus sozusagen vorgestellt wird. Es ist die Freiheit, sich nicht immer wieder rückzubinden an die eigenen Einbrüche und Niederlagen, sondern zu sagen: Mein Leben ist mehr, es ist mir geschenkt in Freiheit. Das ist jetzt sehr abstrakt gesagt, doch es ist der Kern des Glaubens.

Fühlen Sie sich frei?

Ja, in der Tat. Ich fühle mich frei. Diese Freiheit ist ein Geschenk Gottes. Und der Glaube kann gar nicht anders als diesen Raum zu befördern.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Tobias Rauser

Stefan Knobloch wurde 1937 geboren und ist Priester und Theologe. 1956 trat er in den Kapuzinerorden ein. Von 1988 bis 2002 war er Professor für Pastoraltheologie in Mainz. Br. Stefan lebt in Passau. 

Vgl. https://www.kapuziner.de/die-freiheit-ist-das-eigentliche-ziel-des-glaubens/