Zu Ende gepredigt

Am 24. April 1622 wurde der Kapuziner Fidelis von Sigmaringen nach seiner Predigt in Seewis ermordet. Seine Predigt mit dem Thema Einheit im Glauben hatte das Gegenteil erreicht. Die aufgebrachten Protestanten haben den „Störenfried“ umgebracht, nachdem er von der Kanzel heruntergestiegen war. 400 Jahre später wurde dieselbe Kanzel auf dem Rathausplatz von Sigmaringen aufgestellt. Es besteigt sie der reformierte Pfarrer von Sigmaringen; auch er spricht ein paar Worte über Einheit und betete für Versöhnung und Frieden. Anschliessend umarmen sich vor dieser Kanzel – unter dem Applaus des Volkes – der katholische und der reformierte Pfarrer.  Die Predigt, die Fidelis vor 400 Jahren begonnen hat, wurde zu Ende gepredigt, sie hat ihr gutes Ziel erreicht. Für mich war es der eindrücklichste Moment am 1. Mai 2022, am Fidelis Fest in Sigmaringen. Die offiziellen Vertreter der beiden Konfessionen haben sich umarmt, und die vielen Menschen auf dem Platz haben dazu geklatscht. Unter Applaus hat das Volk gezeigt, was es sich von den Verantwortlichen ihrer Konfessionen eigentlich wünscht: Gegenseitiger Respekt und Frieden.

Das gilt für die Konfessionen, für die Religionen, das gilt für die Politik in Europa und weltweit. Wie viel schöner wäre unsere Welt für alle, wenn die verantwortlichen Führer in Religion und Politik weniger auf die eigene Macht und grossartige Selbstdarstellung ihrer Organisation achten würden, dafür mehr auf die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen an der Basis: Auf ein Leben in Toleranz, in gegenseitigem Respekt und Frieden.  


Willi Anderau

Willi Anderau, geb. 1943. Mitglied des Kapuzinerordens seit 1965. Ausbildung in Theologie und Journalistik an der Universität Fribourg. Lebt im Kapuzinerkloster Wesemlin, Luzern. Er war während 17 Jahren bischöflich Beauftragter für Radio und Fernsehen in der Deutschschweiz. Engagiert sich in der Seelsorge und in kirchenpolitischen Themen.