Was das Leben lebenswert macht
Walter Ludin, Kapuziner. «Was macht euer Leben trotz gesundheitlicher Einschränkungen lebenswert?» Diese Frage habe ich einigen betagten Mitbrüdern gestellt. Sie leben – wie ich seit anderthalb Jahren – im Kapuzinerkloster Schwyz, in das eine Pflegestation integriert ist. Neben voll Pflegebedürftigen, zum Teil Dementen, wohnen hier etwa ein Dutzend Brüder, die mehr oder weniger gesund, gesundheitlich etwas angeschlagen sind.
Sechs von ihnen habe ich die schriftlich die Frage gestellt: «Was macht dein Leben lebenswert, auch wenn du nicht mehr so viel leisten kannst wie früher/wie du möchtest?»
Nikodem Röösli (der mit seinen 85 Jahren noch keineswegs zu den ältesten unter uns zählt!) antwortet philosophisch, dann theologisch: «Ich bin nicht nichts. Ich bin etwas.» Dann: «Als Mensch, als ‘Erdling’, aus Sternenstaub geschaffen, bin ich von Gott geliebt.»
«Gestützt und gefordert»
Nikodem erinnert daran, dass er zusammen mit Brüdern und Schwestern leben darf. Auch Dietrich Wiederkehr (91) geht auf diese Gemeinschaft ein. Er habe «Potentiale», der er nur mit andern, von andern leben könne: «auf andere angewiesen, von andern gefordert, gestützt.»
Die Gemeinschaft mit den «Schwestern», den Pflegefachfrauen, wird ebenfalls in mehrern Antworten hervorgehoben. So meint Thomas Egger (80), sein Leben sei auch darum lebenswert, weil er «von kompetentem Pflegepersonal aufmerksam und einfühlsam betreut» werde. Ein anderer Bruder meint, mit «meinem Dank und einem freundlichen Wort kann ich dem Personal etwas zurückgeben».
Am Anfang seiner Antwort schreibt Thomas vom «Bewusstsein, von Gott getragen, von Jesus Christus und dem Heiligen Geist im Leben begleitet zu sein – mit Gebet in Gemeinschaft und privat».
Entlastet
Gebhard Kurmann (82) freut sich, dass er entlastet sei von allen pflichtvollen Aufgaben: «Vieles davon habe ich gerne geleistet, anderem trauere ich nicht nach. Jetzt kann ich die Tage gelassen angehen und geniessen. Mit der äusseren Ruhe kehrt auch eine innere ein. Jetzt nehme ich viel bewusster und intensiver wahr, wie die Zeit vergeht.»
Leonz Betschart (90) zählt auf, was sein Leben lebenswert macht: «Jeden Morgen aufstehen, wenn auch gelegentlich etwas ‘gstabig’, verkrampft; Spaziergang in unserem bewundernswerten Garten; Besucher und Besucherinnen, die einen einladen, abholen, heimbringen und andere zwischenmenschliche Kontakte: die beste Medizin für den Menschen ist der Mensch.»
Leonz beendet seine Antwort mit zwei Bibelstellen:
- «Auch wenn ich alt und grau bin, wenn meine Kräfte schwinden, Du Gott bist meine Zuflucht.» (Psalm 71,18)
- «Eines tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt (was nicht wunschgemäss verlaufen ist). Ich strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt.» (Apostel Paulus an die Gemeinde in Philippi, 3,13)
Die Vergänglichkeit annehmen
Ähnlich argumentiert Wilhelm Germann (90) mit einem Zitat von Dag Hammarskjöld, dem bei einem Flugzeugabsturz im Jahr 1961 ums Leben gekommenen UNO-Generalsekretär: «dem Vergangenen Dank – dem Kommenden Ja».
Da Wilhelm vor Kurzem, im Juli seinen runden Geburtstag feierte, hat er sich mit unserem Thema ausführlich beschäftigt und darüber einen eigenen Artikel verfasst. Dieser ist im Internet zu finden: https://www.kapuziner.ch/aktuelles/das-alter-ist-eine-terrasse.
Hier ein längeres Zitat daraus: «Ein Psalmwort lässt mich darum beten: ‚Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz‘. (Ps 90,12). In solchem Beten liegt die Weisheit, die täglich wachsenden Grenzen und die Vergänglichkeit des Lebens anzunehmen. Darin öffnet sich das kurze Leben in die Weite der unendlichen Liebe im Geheimnis Gottes. Das Danken für das Leben ist mir bedeutsam – für das Leben, wie es gewesen ist.“
Am Schluss seiner Überlegungen fügt Wilhelm Worte der Dichterin Marie Luise Kaschnitz an, mit denen ich meinen Artikel abschliesse:
„Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht – ein Licht von Sonne, in das ich hinabstürzen kann.“
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